Die Schicksalsleserin
rannen ihm über die Wangen.
Lucas starrte ihn an. Dann rannte er los. Er flog die Treppe hinunter und tauchte in das Gedränge ein. Vier Männer mit Tüchern vor den Gesichtern waren schon wieder dabei, sich fürs Weitergraben zu rüsten. Lucas schnappte sich einen nassen Fetzen, band ihn sich vor Mund und Nase, griff sich eine Laterne und eine abgebrochene Schaufel und kroch in die
mittlere Öffnung. »Da geht’s nicht weiter!«, rief hinter ihm jemand. Doch der Student achtete nicht darauf.
Verbissen krabbelte er auf allen vieren in die Dunkelheit, das Licht vor sich herschiebend. Der Boden war vom Schuhwerk der Männer festgetreten, doch je tiefer er kam, desto mehr große und kleine Brocken erschwerten ihm das Vorwärtskommen. Der Gang wurde flacher, Teile der Decke mussten heruntergefallen sein. Er blinzelte den Staub aus den Augen und robbte weiter. Schließlich kam er in einem unversehrten Teil an, der jedoch schnell vor einem Einsturz endete.
Lucas stellte die Laterne ab und nahm die Schaufel nach vorne. Wie besessen stach er zu und häufte hinter sich einen Haufen Erde auf. Er kam gut voran und merkte nicht, wie er sich in Schweiß arbeitete.
»Lucas!« Der Student drehte sich nicht um, als Bernhard hinter ihm in den Gang kroch. »Lucas, s’bringt nix!«
Doch Lucas hörte nicht auf ihn, er wühlte weiter, stach zu, schaufelte weg, rückte nach. Bernhard schloss ihm die Arme um den Oberkörper und zog ihn zurück. »Lass mich!« Der Student wehrte sich, doch der Griff des Mannes war kräftiger. Bernhard hielt ihn fest.
Lucas fuhr sich mit dem Handrücken über die Stirn, um sich den Schweiß aus den Augen zu wischen, doch er verteilte den Dreck nur noch. Mit brennenden Augen starrte er voran. Im unsteten Laternenlicht hatte er das Gefühl, in ein Grab zu schauen. Hofers Grab, dachte er bitter. Jetzt, als seine Muskeln zur Ruhe gezwungen waren, spürte er, wie sehr er sich verausgabt hatte. Er weinte. Der verstockte alte Kerl!
»Kumm, s’hülft nix. Er’s nimma da. Gemma auffi.«
Lucas wollte nicht fort. Er konnte es kaum ertragen, Wilhelm Hofer hier unten in seinem Grab zurückzulassen. Doch
er konnte nichts mehr tun. Georg Hofer hatte Recht. Jetzt war es zu spät. Also nickte er stumm.
Sie krochen nacheinander zurück. Mit letzter Kraft zog er sich in den Keller und ließ sich von dem Bergknappen hinauf in die Werkstatt auf die Decke helfen. Dort saß noch immer der Sohn des Zimmermanns. Er hielt einen Wasserkrug in der Hand und hatte sich inzwischen immerhin das Gesicht gewaschen. Lucas hingegen war völlig erschöpft. Sie saßen eine Weile stumm nebeneinander.
»Es tut mir leid«, murmelte der Student irgendwann, und er meinte es so.
»Leid tut’s dir? Leid? Wärst’ hier gewesen, hättest ihn vielleicht retten können! Bernhard hat ihn gewarnt, er solle jemanden mit guten Ohren mitnehmen! Aber du wolltest ja nicht! Und jetzt erzähl mir nicht, du hättest Besseres zu tun gehabt!«
Lucas wusste darauf keine Antwort. Er schloss die Augen. Für Georg Hofer gab es keinen Trost. Besonders da Lucas seine Entscheidung, nicht wieder in die Keller zu gehen, mit einem Mal sehr selbstsüchtig fand.
Draußen herrschte Stille. Er horchte auf. Wie lange hatte er unter der Erde gewütet? Offenbar lange genug, dass sich das Gefecht beruhigen konnte, denn von der Mauer drang kaum einmal ein Schuss herüber.
»Vermutlich läge ich da jetzt mit ihm begraben, wenn ich auch hinuntergegangen wäre«, murmelte er schließlich. »Ich habe deinem Vater gesagt, dass es doch auch andere geben muss, die da unten gut hören.«
»Er wollte aber dich«, spie Georg aus und starrte ihn an. Dann machte er eine abwinkende Geste. »Was soll’s. Außer auf dich hat er ja eh auf niemanden gehört.«
»Auf mich?«, erwiderte Lucas verblüfft. Sicher, seine Beziehung
zu Wilhelm Hofer war mehr als kompliziert gewesen. Aber hatte er je einen Rat akzeptiert? »Im Gegenteil - wir haben einander die Köpfe eingeschlagen, wann immer wir konnten!«
»Er hat über dich geflucht wie ein Rohrspatz, ja. Aber du hast gegengehalten. Du hast deine Meinung gesagt. Und du hast getan, was du für richtig gehalten hast. Solche Dinge hat Vater respektiert.« Georg musterte ihn fast versöhnlich. »Ich schätze, er hat zum Schluss doch eingesehen, dass du gar nicht so übel geraten bist.«
»Was meint Ihr damit?«, fragte Lucas irritiert.
Der Zimmermann schwieg einen Augenblick, als hätte er mehr gesagt, als er wollte. »Ich schätze,
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