Die Schicksalsleserin
jetzt ist es auch egal«, murmelte er. Dann stand er auf, rang einen Augenblick lang um sein Gleichgewicht und verschwand in einer Kammer bei der Küche. Er kam mit einem Beutel zurück und zog einen glitzernden Gegenstand heraus. »Hier. Er würd’ wollen, dass du das bekommst.«
Lucas studierte erstaunt Georgs Miene. »Was ist das?«
»Nimm es einfach. Es erklärt ein paar Dinge.« Zögerlich hielt Lucas die Hand auf, dann fiel das Metall kühl und hell in seine Handfläche. Er griff sich ein Ende und hielt es hoch. Es handelte sich um ein Cingulum ! Was wollte ein Handwerker mit dem Gürtel eines Studenten? Und warum reichte sein Sohn den jetzt an ihn weiter? »Ich verstehe nicht ganz. Was soll das?«
Der breite Mann sah ihn an. »Hast du dich nie gefragt, wer das Geld gespendet hat, um ausgerechnet dich im Bürgerspital erziehen zu lassen? Warum du in die Bürgerschule beim Stephansdom aufgenommen worden bist? Wieso du als Bettelstudent ein Stipendium an der Universität erhalten hast sowie einen Platz in der Kodrei?«
»Ich …« Lucas verstummte kurz. Die Richtung, in die das Gespräch sich wendete, gefiel ihm nicht. »Nein.«
»Hast’ gedacht, das hätte was mit deinem klugen Kopf zu tun, was? Hat es sicher auch. Aber kluge Köpfe kommen ebenso unter die Räder wie dumme.«
»Warum also sind all diese Dinge passiert? Wer hat das Geld gegeben, um mich auf die Schule zu schicken? Dein Vater?«
»Bist eben doch ein kluges Köpfchen«, gab Georg zurück.
Lucas zögerte, bevor er die nächste Frage stellte. Er fürchtete sich vor der Antwort, denn er wusste, dass sie bedeutsam für ihn sein würde. »Warum hat er das getan? Das kann nicht leicht für ihn gewesen sein.« Und warum hatte Wilhelm Hofer seinem Sohn nicht dasselbe gegönnt?
»Er hatte wohl das Gefühl, es dir schuldig zu sein«, erwiderte Georg leise und deutete auf das Cingulum in Lucas’ Hand. »Es gehörte deinem Vater.«
Lucas starrte auf die metallene Kette in seiner Hand. Der Gürtel seines Vaters - wie kam der in Wilhelm Hofers Besitz? Was hatte das alles zu bedeuten?
Mit einem tiefen Atemzug ließ Lucas die Luft durch seine Lungen strömen, und der Staub, der noch immer umherschwirrte, ließ ihn husten.
Erklärungen, wie das Cingulum in Wilhelm Hofers Besitz gekommen sein könnte, gab es wohl viele. Ein Geschenk, Diebstahl, Weiterverkauf, durch wessen Hand auch immer. All das wollte aber allein für sich keinen Sinn ergeben. Nahm man die anderen Faktoren hinzu - Hofers Bekanntschaft mit seinem Vater, die Tatsache, dass er ihn offenbar über Jahre hinweg beschützt und finanziert hatte, seine Wut auf Lucas - blieb nur eine einzige logische Begründung. Wilhelm Hofer hatte ein schlechtes Gewissen gehabt. Und zwar ein so schlechtes Gewissen,
dass er es über Jahre hinweg an Leonhard Steinkobers Sohn zu beruhigen versucht hatte.
Lucas sah, dass seine Hand zitterte. Seine Finger krampften sich um den Metallgürtel in seiner Handfläche.
»Hast’ es dir ausgerechnet?«, fragte der Zimmermann. »Gut. Ich schätze, wir beide sind einander jetzt nichts mehr schuldig.«
»Was ist damals passiert?«, fragte Lucas leise.
»Sie konnten sich nicht gut leiden, dein Vater und meiner. Der Streit im Frauenhaus geriet außer Kontrolle. Jemand hat ein Messer gezogen. Den Rest kennst du.«
Der Student wusste nicht, was er sagen sollte. »Warum hat er mich dann unterstützt?«
»Ich schätze, er wollte die Schuld an deinem Vater wohl dadurch abtragen, dass er dich zu dem besten Menschen macht, der du sein kannst.«
Lucas starrte ihn an. Kein Hohn stand in dem dreckigen Gesicht des jüngeren Hofers, kein abfälliges Lächeln machte ihn zu dem Bösewicht, als den der Student ihn im Augenblick so gerne sehen würde. Im Gegenteil, er las eine gewisse Anteilnahme in seinen Zügen.
»Ihr habt Recht«, sagte Lucas tonlos. »Wir beide schulden einander nichts mehr.« Dann stapfte er an dem Zimmermann vorbei, hinaus aus dem Haus.
Er ging durch die Gassen, als hätte er die Stadt seit Wochen nicht mehr offenen Auges betrachtet. Wien - seine geliebte Heimat Wien - war ein Trümmerhaufen. Eingerissene Gebäude, aufgerissene Straßen, eine zerschossene Stadtmauer, geisterhafte Ruinenstädte außen herum - wie hatte es so weit kommen können? Wie hatte man zulassen können, dass dies geschah? Wer war die treibende Kraft hinter so viel Grausamkeit und Zerstörungswut?
Der Anblick der grauen Verwüstung spiegelte Lucas’ Inneres wider. Wie hatte er über
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