Die Schicksalsleserin
befahl Mehmed nun.
»Warum?«, fragte Anna beunruhigt. »Wo bringt Ihr uns hin?«
»Das wirst du früh genug sehen.«
»Herr Mehmed«, mischte sich nun auch Christoph ein. »Was geschieht mit ihr? Ihr könnt sie doch nicht in solchen Zeiten wiederum verschleppen?«
»Was ich tun und lassen kann, ist nicht Eure Sache, Herr Christoph«, erwiderte Mehmed ungeduldig. »Ihr seid ein Gast des Sultans. Benehmt Euch auch so.«
»Aber ich will hier nicht fort«, stieß Anna aus. »Ich fühle mich hier sicher. Und die Kinder schlafen gerade.«
Der Offizier funkelte sie in der Sonne an. »Ich werde mich nicht wiederholen. Beeil dich jetzt.«
Anna sah zu Christoph hinüber, doch der wich ihrem Blick aus. Er hatte sie vor Seyfeddin geschützt, doch gegen Mehmed konnte er ihr nicht beistehen. Langsam atmete Anna ein und wieder aus. Es war nicht gesagt, dass Mehmed ihr etwas antun wollte. Sie war offenbar eine Geisel; wertvoll genug, dass man sie vor Unheil bewahrte. Vielleicht brachte er sie bloß woandershin. Aber hatte er nicht selbst gesagt, dass sie hier am sichersten war? Wollte er sie von Christoph trennen, um leichteres
Spiel mit ihr zu haben, wenn sich herausstellen sollte, dass die Informationen auf dem Spiel gefälscht waren? Was geschähe dann mit ihren Kindern? Der Gedanke drohte sie zu lähmen.
Endlich drehte sich Anna um und ging zurück in das schattige Zelt. Die Gestalten ihrer Kinder lagen noch immer still in den Kissen - sie schliefen in der letzten Zeit beide viel, oder Fritzl tat zumindest so. Einen Augenblick verharrte sie und genoss den Frieden dieses Anblicks. Wenn es doch immer so bleiben könnte! Stattdessen musste sie die beiden nun aus ihrem Schlaf reißen, musste sie anziehen, damit sie einem ungewissen Schicksal entgegengingen. Vielleicht würden sie gar von ihr getrennt. Vielleicht steckten sie Friedrich zu den Janitscharen, wie der Mann mit der Narbe es offensichtlich vorgehabt hatte. Und Elisabeth … Sie war zu klein, um von irgendeinem Nutzen zu sein. Sie hatte andere Frauen schluchzen hören, man habe ihnen die Säuglinge entrissen und in die Flammen ihrer Häuser geworfen, damit sie den Soldaten kein Klotz am Bein wären. Anna konnte diese Gedanken kaum ertragen.
»Friedrich?« Sie schüttelte den Jungen zaghaft an der Schulter. »Fritzl!« Der Bub sah verschlafen auf und blinzelte ein paarmal. »Wir müssen gehen.«
Er erwiderte nichts. Kein Wort hatte er mehr gesprochen, seit er in der Nacht verletzt worden war, und seit sein Blick auf Seyfeddins abgeschlagenes Haupt gefallen war, hatte er jeglichen Antrieb verloren. All die schlimmen Ereignisse der letzten Wochen waren zu viel für ihn. Anna zog ihn sanft auf die Füße und streifte ihm Umhang und Schuhe über. Dann hängte sie ihm sein Säckel über. Wie er da im Kerzenschein vor ihr stand und vor sich hinstierte, brach ihr beinahe das Herz.
»Fritzl, willst du nicht mit mir sprechen?«, fragte Anna. »Bitte?« Doch der Junge schien sie nicht einmal zu hören.
Die Mutter kniete sich vor ihn auf den Boden und zupfte zärtlich seine Kleider zurecht. »Was ist denn bloß mit dir?«, fragte sie traurig. Als Elisabeth aufwachte und ängstlich nach ihr rief, strich Anna dem Sohn über die Wange, bevor sie sich abwandte. Es war, als zöge er sich immer weiter vor ihr zurück.
Dann trat sie an Elisabeths Lager und hob den kleinen Körper auf. Das Mädchen gähnte und vergrub die Hände in Annas Haaren. Die Mutter schlang ihr ein Tragetuch um den Leib - aber nicht zu fest, damit sie ihr nicht wehtat. Schließlich band sie sich das Kind wieder auf den Rücken. Sie wollte es ganz nah bei sich spüren.
Als sie sich wieder dem Sohn zuwandte, sah sie Christoph vor ihm stehen. Der griff nach einer Lederschnur, die um seinen Hals lag, und zog einen Anhänger aus Metall hervor. »He, kleiner Mann«, sagte der Bannerträger. »Soll ich dir mal etwas zeigen?«
Friedrich antwortete nicht, doch er wirkte interessiert. Das war mehr, als Anna bislang erreicht hatte. Also tat sie so, als müsse sie noch ein paar Sachen zusammensuchen. Sie wollte den beiden ein bisschen Zeit einräumen.
»Weißt’, was das ist?«, fragte Christoph den Jungen. »Das ist ein Ritter. Der heilige Georg. Und weißt’, was der Heilige macht?«
Anna beobachtete aus den Augenwinkeln, dass ihr Sohn den Kopf schüttelte. Nur ein klein bisschen - doch er hatte reagiert. »Er ist der Schutzherr der Gefangenen und hilft gegen die Gefahren des Krieges.« Der Bub sah zu dem
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