Die Schicksalsleserin
und Lucas stach erneut zu. Schließlich brach der Mann vor ihm zusammen, und Lucas hielt kraftlos inne. Er holte tief Luft und merkte, dass er am ganzen Körper zitterte. Er hatte einen Mann getötet - zusammen mit dem Schuss vorhin vielleicht sogar zwei.
»Steinkober?«, erklang da Hofers Stimme.
»Ja …«
»Bist’ in Ordnung?«
Lucas tastete nach der Wunde an seinem Arm. Sie schmerzte höllisch, doch sie schien nur oberflächlich zu sein. Natürlich musste sie gesäubert und verbunden werden, doch er konnte den Arm weiterhin bewegen. »Nur ein Schnitzer«, gab er zurück.
»Ich mache Licht«, erklang Hofers körperlose Stimme.
Lucas fasste den Griff seiner Waffe fester. Möglich, dass sich einer der Osmanen klug zurückgehalten hatte, bis man das Gefecht für beendet hielt.
Stein klackte an Stein, einige Funken sprangen auf und ein Feuerschwamm begann zu brennen. Offenbar hatte der Zimmermann einen weiteren Kerzenstummel dabei, den er nun entzündete. Lucas sah sich im Licht nach den Feinden um.
Die beiden Osmanen lagen in ihrem Blut auf dem Boden. Der eine rührte sich nicht mehr, der andere krümmte sich in atemlosen Schmerzen. Lucas hatte ihn oft getroffen. Einen Dritten konnte er weder sehen noch hören.
»Sei bloß vorsichtig mit der Kerze«, bat Lucas nun und hob den Säbel des Osmanen auf. Er sah sich um, fand dessen Laterne in einem kleinen Erdhügel stecken, grub sie aus und holte die Kerze daraus hervor, die er an Hofers Docht entzündete.
Dann wagte er sich vor, bis zu der Kammer, die die Osmanen gerade verlassen hatten. Sie war deutlich größer als der Gang, aus dem sie kamen, es passten vielleicht fünf Männer hinein. Vier Pulverfässer waren hier aufeinandergestapelt - und im Gang dahinter standen noch drei weitere. Eine lange Lunte verschwand in dem Gang, der unter den Mauern hindurch ins Feindeslager führen musste. Lucas’ erster Handgriff war, sie zu zerschneiden, damit man von dort aus nicht doch noch zünden könnte.
»Verdammt«, murmelte er. »Wo mögen wir hier sein?«
»Irgendwo unterm Augustinerkloster«, erwiderte Hofer. »Komm, lass uns zusehen, dass wir die Fässer hier herausbringen. Das wird verdammt schwer. Und dann müssen wir den Gang hier zuschütten.«
Lucas war froh, dass sie die Erdsäcke nicht sonderlich weit weggetragen hatten, die konnten sie jetzt brauchen. »Wir benötigen Verstärkung.«
Sie arbeiteten schnell und unermüdlich. Lucas rollte auf seinem ersten Weg zurück in die kleine Kammer ein Fass vor sich her und brachte es schließlich zurück in Hofers Kellerraum. Hier rief er weitere Männer herbei. Man teilte sich die Strecke, um die Fässer schneller aus dem Sprenghof zu bringen. Das größere Problem war nun, den Gang der Osmanen zu verschließen. Sie füllten die Erdsäcke und schafften sie herbei, teilweise hackten sie in die Wände und die Decke des Ganges selbst, um ihn zum Einsturz zu bringen.
Als sie fertig waren, sah sich Lucas um und atmete erleichtert auf - hier würde kein Osmane mehr durchkommen, ohne erst größere Grabungsarbeiten durchführen zu müssen. »Weiß jemand, was draußen vorgeht? Wenn die Feinde stürmen, will ich nicht mehr hier unten sein.«
»Na, wir wissen nix«, sagte ein Schwazer.
Lucas verspürte ein Kribbeln im Nacken, das ihn zur Schnelligkeit mahnte. Sie ließen die Leichen, wo sie waren, und arbeiteten sich wie Perlen an einer Kette zurück in den kleinen Hohlraum, von dem die Öffnungen abführten. Die beiden Bergknappen schoben jeder ein letztes Fass gen Keller.
Plötzlich spürte Lucas ein Beben. Erde prasselte in großen Stücken von der Decke herunter. In der Ferne erklang ein dumpfes Krachen. »In den Gang!«, brüllte Hofer, griff sich Lucas und trieb ihn vorwärts. Hastig krabbelte Lucas voran, bis ihn ein heftiger Druck an den Boden presste. Dann hörte er ein Fauchen, und die Luft floh in die andere Richtung - ein Feuer! Das Geräusch kam von Süden, von der Mauer beim Augustinerkloster, aus jenem zweiten Gang, dem sie nicht gefolgt waren. Georg Hofer schrie hinter ihm auf.
Lucas kroch so schnell weiter, wie er konnte, und begann zu beten. Er stieß sich den Kopf und rieb sich die Knie auf, doch er fürchtete, dass alles zu spät war.
Er dachte an Madelin - Meryem -, und hoffte, dass sie in Sicherheit wäre, wenn die Osmanen kämen. Denn der letzte Sturm auf Wien hatte soeben begonnen.
Dann wurde Lucas gewahr, wie hinter ihm der Gang einzustürzen begann.
KAPITEL 26
D er Donner der beiden
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