Die Schicksalsleserin
Friedrich.
»Anna!«, rief Madelin überrascht. »Du bist frei!« Sie näherte sich der Bettstatt mit schnellen Schritten und setzte sich zu ihr. »Gott sei’s gedankt - du bist wohlbehalten!« Sie hatte sich solche Sorgen gemacht, dass Anna etwas geschehen würde - und stattdessen hatte sie hier geschlafen, in sicherer Obhut. »Warum hast du mir nicht Bescheid sagen lassen, dass du in Sicherheit bist?« Die Wahrsagerin nahm die Schwester in den Arm.
»Madelin«, sagte Anna liebevoll. Sie erwiderte die Umarmung herzlich und hielt sie lange fest. »Ich habe Mutter darum gebeten«, sagte sie dann. »Aber wir wussten nicht, wo du bist.«
Madelin drückte die Schwester noch einmal, dann löste sie sich von ihr und betrachtete sie. Anna sah blass aus, die Ringe unter den Augen schimmerten beinahe violett. Sie schien nicht gehungert zu haben, und trotz der offensichtlichen Müdigkeit wirkte sie ruhig. »Jetzt wird alles wieder gut«, sagte Madelin.
»Manche Dinge lassen sich nicht wiedergutmachen«, sagte Anna und legte ihrem Sohn den Arm um die Schultern. Dann griff sie mit der anderen Hand nach der Schwester. »Aber man kann lernen, damit zu leben.«
Madelin musterte die Schwester bedrückt. Sie wirkte älter als zuvor, noch verhärmter. Was mochte ihr in der Gefangenschaft der Türken alles widerfahren sein? Im Moment wollte sie nicht weiter nachfragen. Wenn die Zeit dafür reif war, würde sie es von selbst erzählen. »Wie seid ihr befreit worden? Hat Mutter …?«
»Er hat mich gehen lassen«, sagte Anna. »Mich und die Kinder.«
»Einfach so?«
»Er hat gesagt, er würde sein Wort dir gegenüber einlösen, und wir sollten ins Haus der Mutter fliehen, dort wären wir sicher. Und dann hat er uns auf die Straße nach Wien gesetzt, dort, wo gerade der Ausfall stattgefunden hatte. Ich bin mit den Kindern bis zum Tor - mit einer Leiter mussten wir schließlich über die Mauer.«
Madelin fühlte, wie sich in ihrem Hals ein Knoten bildete. »Das hat er gesagt?«, fragte sie. »Er würde sein Wort halten?«
»Madelin, du hast so viel für mich gewagt.« Anna drückte dankbar ihre Hand.
»Mach dir darüber keine Gedanken«, sagte Madelin und erwiderte die Geste. »Hauptsache, ihr seid in Sicherheit.«
Anna nickte, den Tränen nah. Das kleine Mädchen neben ihr räkelte sich und begann zu weinen. Es griff sich das Hemd der Mutter und rollte sich heran. Anna ließ Madelins Hand los, um auch die Tochter eng an sich zu ziehen.
»Die Kinder sind noch ganz verschreckt, Madelin. Sehen wir uns später?«
»Ja, machen wir.« Sie gab der Schwester einen Kuss auf die Wange. Dann stand Madelin auf, strich sich ihr gutes Kleid glatt und schenkte Anna ein kleines Lächeln. Die hatte sich mit losem Haar zurück ins Bett gelegt, das eine Kind rechts, das andere links in die Armbeuge geschmiegt, dazwischen Kissen
und weiße Leinentücher. Es war ein Bild des Friedens, obwohl doch draußen der Krieg tobte.
Als Madelin die Tür von außen schloss, lehnte sie sich gegen das Holz und holte ein paarmal tief Luft. Anna war frei, und Mehmed hatte sein Wort gehalten. Er mochte Schreckliches getan haben, aber er war ein Mann von Ehre. Das war mehr, als sie bislang von ihm gedacht hatte. Die Kammer, in der sie stand, ja das ganze Haus wirkte mit einem Mal nicht mehr so dunkel oder gar bedrohlich.
»Die Türken haben beim Augustinerkloster eine Bresche geschlagen«, sagte die Mutter vom Fenster aus. Sie hatte sich nicht vom Fleck weggerührt. Ihre Worte klangen beinahe, als kommentiere sie das Wetter. »Sie misst sicher mehr als einhundertzwanzig Fuß.«
»Und das macht Euch glücklich?«, fragte Madelin wütend. »Ihr habt die Stadt an die Türken verraten. Hasst Ihr die Menschen hier so sehr? Hasst Ihr den Grafen so sehr?«
»Ich hasse weder Wien noch den Grafen zu Hardegg, Madelin. Was bringt dich auf solche Ideen?«, fragte die Mutter tadelnd. Doch ihr Ton war milde.
»Warum dann?«, fragte Madelin leise. »Was bringt einen Menschen zu so einer Tat, die Tausende das Leben kostet?«
Elisabeth von Schaunburg wandte sich ganz zu ihr um. Sie lächelte. Es wirkte verkrampft und ungewohnt - und gleichzeitig doch auch so glücklich, wie Madelin sie noch nie gesehen hatte. »Die Karten, die du mitgenommen hast, waren ein Geschenk«, sprach sie dann. »Mehmed hat sie mir geschenkt. Kein Zeichen wäre besser gewesen als dieses. Ich habe lange gebraucht, um ein Spiel zu finden, das dem ähnelte, das du mir gestohlen hast.«
»Was … was
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