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Die Schicksalsleserin

Titel: Die Schicksalsleserin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lena Falkenhagen
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Explosionen rollte über Wien hinweg wie ein Paukenschlag. Es war, als solle er jedem einzelnen Menschen darin verkünden: Sehet her - dies ist der Tag eures Endes! Und es war keiner in Wien, der die Botschaft nicht verstand. Wer noch in der Stadt war, befand sich auf den Beinen.
    Madelin eilte frühmorgens durch die schmalen Gassen zum Hohen Markt. Die Staubwolke, die im Süden in den Himmel stieg, bedeutete, dass Gebäude eingestürzt sein mussten. Der Größe nach zu urteilen nicht wenige.
    Die Wahrsagerin hatte sich noch ein Stündlein in der Kodrei um Franziskus gekümmert und auf ein Zeichen gewartet. Der vierte Sturm der Osmanen hatte begonnen. Als Erisbert heimgekehrt war, hatte sie ihn gebeten, sich um den Ikonenmaler zu kümmern. »Er wird einen Anfall haben, wenn der Kampf losgeht«, hatte sie ihm mitgeteilt. »Nicht unbedingt bei fernen Schüssen aus den Arkebusen, denke ich. Aber die Explosion von Minen wird ihn sicher beunruhigen.«
    Madelin stand mit wild klopfendem Herzen vor dem Haus der Mutter am Hohen Markt und bemerkte den Aufruhr um sich herum kaum. Ihre Schlacht war eine andere. Trotzdem betete sie dafür, Lucas lebend wiederzusehen.
    Auf ihr hartnäckiges Klopfen hin öffnete sich nach einer Weile die Tür einen Spaltbreit. »Was?«, fragte die Magd namens Girte, die Madelin beim letzten Mal so brüsk abgewiesen hatte.
    »Ich muss mit meiner Mutter sprechen«, sagte die Wahrsagerin. Ihr Mund war trocken, sie spürte den Schweiß an den Handflächen.

    »Das ist ein denkbar schlechter Zeitpunkt, Mädchen!«, keifte die Frau und drückte die Tür wieder zu. Doch sie stieß auf Widerstand, denn Madelin hatte einen Fuß in die Tür gestellt.
    »Was soll das?«, zischte Girte. »Ich habe doch gesagt, dass …«
    »Ich habe keine Zeit für so etwas«, knurrte Madelin. »Und auch keine Geduld. Du wirst jetzt die Türe öffnen und mich hineinlassen!«
    Die Frau starrte sie feindselig an, doch Madelin nahm ein Zögern wahr. »Aber die Herrin hat gesagt …«
    Die Wahrsagerin schnaubte. Dieses Mal würde sie sich von dem Drachen nicht abschrecken lassen. »Was die Herrin gesagt hat, ist mir recht einerlei«, entgegnete sie. »Du wirst mich jetzt einlassen, sonst werde ich dem Stadtrichter einen Fall von Lepra in diesen Mauern melden, und ihr werdet alle für die nächsten Monate unter Quarantäne gestellt. Würde das der Herrin gefallen?« Die hagere Magd wurde leichenblass.
    Madelin stieß die Tür auf und schob sie beiseite, um ihr Geburtshaus zu betreten. »Außerdem habe ich einen Namen. Ich heiße Meryem.«
    »Ich … also … hier lang«, stotterte Girte und wies auf die schmale und steile Treppe, die hinauf in den ersten Stock führte.
    »Ist die Frau Mutter nicht in der Kemenate?«, fragte Madelin.
    »Nein. Sie ist in der Bibliothek.«
    Madelin zog eine Augenbraue hoch. Die Schreibstube der Mutter musste in den letzten Jahren deutlich angewachsen sein, wenn man sie inzwischen Bibliothek nannte. Von oben hörte sie Stimmen. Beinahe verzagt betrat sie die erste Stufe.
    »Girte, wer war das?«, drang von oben eine kühle Stimme herab.
    Madelin legte den Finger auf die Lippen, um die Magd zum Stillschweigen anzuhalten. Dann nahm sie ihren Mut zusammen
und ging die Treppe weiter hoch, hinauf in das, was einmal die ihr bekannte Schreibstube gewesen war.
    Elisabeth von Schaunburg saß auf einer Bank am Fenster. Die Wände des Raumes waren über und über mit wuchtigen Folianten bedeckt - die Sammlung musste sich in den letzten sechs Jahren sicher vervierfacht haben. Schreib- und Lesepulte standen in den Ecken, eine Tür ging in das Schlafgemach der Hausherrin ab. Madelin blieb auf der letzten Stufe stehen und krampfte die Hand um das Geländer.
    Elisabeth von Schaunburg wirkte mit ihrer starren, reglosen Haltung mehr wie ein italienisches Gemälde denn ein Mensch aus Fleisch und Blut. Sie saß aufrecht da und wandte der Tochter den Rücken zu. Haltung und Gewandung hätten auch die einer Königin sein können. Sie trug ein Kleid aus rot-goldenem Brokat mit Granatapfelmuster, das über und über mit Juwelen bestickt war. Das Haar war streng zurückgeflochten, darüber trug sie eine kappenartige Haube. Wieder fragte sie ohne den Blick aus dem Fenster abzuwenden: »Girte, wer war das nun?«
    Augenblicke verstrichen, ohne dass jemand sprach. Schließlich wandte sich die Mutter missmutig um. Sie hielt inne, als sie die Tochter sah. Ein Schatten des Erstaunens huschte kurz über ihre Züge. »Madelin«, sagte

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