Die Schicksalsleserin
für ein Zeichen denn?«, fragte Madelin mit trockenem Mund.
»Ein Zeichen, damit er versteht, dass ich die Entscheidung von damals bereue.«
»Welche Entscheidung?«, fragte Madelin. »Ihr seid doch von ihm …«
»Nein, Madelin. Das bin ich nicht«, erwiderte Elisabeth von Schaunburg. »Ich habe mich diesem Mann aus Liebe hingegeben, mit ganzem Herzen.«
Madelin war froh, das harte, unnachgiebige Holz der Tür im Rücken zu fühlen. Ihre Mutter hatte den Mann geliebt? Ihren Vater? Das konnte nicht sein - er war ein Tier, eine Bestie, die sich genommen hatte, was sie wollte … Oder etwa nicht? Sie erinnerte sich an das Erstaunen, ja die Entrüstung, als Madelin ihm von der Geschichte der Mutter berichtet hatte. »Dann … dann hast du mich all die Jahre angelogen?«, murmelte sie fassungslos. »Warum?«
Die Mutter wandte sich wieder dem Fenster zu, doch Madelin trat zu ihr heran, um ihr ins Gesicht sehen zu können, sei es auch nur von der Seite. »Ich konnte nicht anders. Ich wollte nicht die Hure eines türkischen Soldaten sein. Hier, in Wien, winkte mir die Vermählung mit einem Grafen.« Der Ausdruck auf ihren Zügen wich tiefer Traurigkeit. »Dumm, wenn man eine solche Entscheidung mit der Weisheit von zwanzig Jahren betrachtet.«
Madelin dämmerte, wie es weitergegangen war. »Ihr habt Mehmed den Rücken gekehrt und seid für die Hochzeit nach Wien gekommen. Und dann wurdet Ihr mit mir schwanger und konntet nicht mehr leugnen, was geschehen war. Doch anstatt die Wahrheit zu sagen, habt Ihr behauptet, der Mann hätte Euch entehrt.«
»Wie hätte ich sagen können, dass ich mich einem Osmanen hingegeben habe?«, fragte die Mutter schlicht. »Das war völlig undenkbar.«
»Und nun wollt Ihr den Fehler wiedergutmachen. Ihr habt den Feldzug der Osmanen genutzt, um zu ihm zurückzukehren. Darum der Plan auf den Trionfi-Karten, darum der Verrat.« Der Gedanke war unglaublich. Madelin hatte ihre Mutter - diese harte, steife, unnahbare Frau - kaum jemals ein Gefühl zeigen sehen, so lange sie lebte.
Elisabeth von Schaunburg nickte mit einem Lächeln. »Ja. Die Zeit lässt sich nicht zurückdrehen, auch wenn man das manchmal wünscht. Aber ich kann dafür sorgen, dass ich die Jahre, die mir noch bleiben, nicht mehr verschwende. Ich habe mich hart gemacht, kalt gemacht, bis nichts mehr von mir übrig war.« Sie schüttelte den Kopf. »Ab jetzt will ich die glücklichste Zeit meines Lebens haben. Ich will, dass Mehmed zu mir zurückkehrt. Dass er mir vergibt. Und dass wir beisammen sind.«
Madelin wurde innerlich ganz ruhig. Sie konnte kaum mehr wütend auf diese Frau sein, die sich vermutlich über die letzten zwanzig Jahre vorgehalten hatte, dass sie den größten Fehler ihres Lebens begangen hatte. Die Tochter empfand Mitleid mit der Mutter.
Mitleid, in das sich Wut mischte. Madelin war ihr ganzes Leben über die Umstände ihrer Zeugung belogen worden. Sie hatte vom ersten Augenblick an, da sie zu sinnvollen Gedanken fähig gewesen war, die Schuld für den gesellschaftlichen Fall der Mutter auf ihren Schultern gefühlt und ihre Abneigung ertragen, weil sie sich sicher war, dass die dafür einen guten Grund besaß. Madelin hatte gedacht, sie wäre halb Mensch, halb Bestie. Möglicherweise lag sie damit nicht einmal falsch, nur war nicht der Vater die Bestie, sondern die Mutter.
»Das wird nicht geschehen«, sagte Madelin hitzig. »Ihr werdet nicht vereint sein. Und für die Osmanen wird der Gang durch diese Mauer kein Spaziergang. Wenn ich raten müsste,
würde ich sagen, dass sie zum vierten Mal die Mauern berennen und sich an Graf zu Hardegg und Eck von Reischach mit ihren Männern die Zähne ausbeißen.«
»Was erzählst du da für einen Unsinn?«, fragte Elisabeth von Schaunburg und wandte sich ihr zu. »Wie kommst du darauf? Sie haben doch die Ziffern auf den Karten. Nicht nur Wiens Mauern werden fallen, sondern sämtliche Verteidiger auf den Plätzen an der Burg, beim Neuen Markt … Sie wissen genau, wo sie zuschlagen müssen! Wien wird mit einem Schlag völlig wehrlos sein, Graf Salm wird die Stadt übergeben müssen!«
»Nein, das wird er nicht«, erwiderte Madelin, und ihre Worte verdrängten die Wut und machten sie ganz ruhig. »Momentan arbeiten Dutzende Männer unter der Erde, um die Minen zu finden.« Sie wies zum Fenster hinaus, von wo Kanonen- und Büchsenfeuer in einem stetigen, unregelmäßigen Stakkato hereindrang. »Aber die Osmanen wissen das nicht. Und deshalb werden sie
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