Die Schicksalsleserin
Kaiser gezogen, um ihre Rechte zu verteidigen. Auf lange Sicht hatte all das jedoch nichts gebracht.
»Mein Vater war ein guter Mann«, sagte Lucas.
»Und woher willst das wissen, Steinkober? Du hast ihn ja kaum gekannt. Als er starb, warst du wie alt - vier?«
»Sechs.« Lucas erinnerte sich zugegebenermaßen nur vage an den Vater - doch das wenige war verbunden mit einem Gefühl grenzenloser Geborgenheit.
»Dein Vater hat um sich geschlagen wie ein tollwütiges Tier. Er war so betrunken, dass er nicht mal die Schmerzen gespürt hat, als man ihm den Arm auskugelte, um ihn festzuhalten. Seinetwegen starben ein Magister und ein angesehener Bürgersmann. Dass er tot ist, ist seine eigene Schuld. Der Mann hat
sich benommen wie ein Hund und ist erschlagen worden wie ein Hund.«
»Das ist nicht wahr!« Lucas ballte die Hände zu Fäusten. Er wollte sich nicht mit Pernfuß streiten, doch er würde nicht zulassen, dass der Mann seinen Vater beleidigte! Heinrich legte seinem Freund beruhigend die Hand auf den Arm. »Seid Ihr gekommen, um alte Geschichten aufzuwärmen, Pernfuß?«
»Nein. Aber von dir, Hardegg, hätte ich mehr erwartet. Bei dem Elternhaus solltest du doch Besseres zu tun haben, als dich mit dem Abschaum der Universität herumzutreiben, oder?«
»Wenn Ihr mit Abschaum vielversprechende Ärzte meint - nein.«
Der Stadtrichter nickte, als bestätige das seine Sicht der Dinge. Er spie in die Ecke. »Für das, was ihr getan habt, verdient ihr, von der Universität verwiesen zu werden.«
»Wir wollten doch nur …«, begann Heinrich aufzubegehren, doch Pernfuß unterbrach ihn. »Helfen?«, fragte er. »Ich weiß. Aber was geschehen ist, ist geschehen. Ein Mann ist tot.«
»Aber Ihr dürft uns gar nicht verurteilen«, sagte Heinrich. »Ihr habt keine Gewalt über Studenten! Wir unterstehen der Universität Wien, und daher müsst Ihr uns an einen Dekan oder den Kanzler überstellen.«
Jetzt schloss der Stadtrichter die Hände zu Fäusten, als hätte er Mühe, sich zu beherrschen. »Das macht nicht besser, was ihr getan habt. Das dulde ich in meiner Stadt nicht länger.«
Lucas musterte Pernfuß im spärlichen Licht der Laterne. Er erkannte, dass dies der eigentliche Grund war, weswegen der Mann sich vor Monaten an ihre Fersen geheftet hatte. Er betrachtete Wien wirklich als seine Stadt, und er konnte nicht ertragen, dass ihm die Studenten darin die Stirn boten - und das gedeckt von der Universität.
»Das heißt, Ihr übergebt uns der Gerichtsbarkeit der Universität?«, fragte Heinrich.
»Nein.«
»Warum nicht?«
»Weil niemand mehr da ist«, gab Pernfuß zurück.
»Wie - niemand mehr da?«, fragte Lucas erstaunt.
»Die ganze Verwaltung der Alma Mater Rudolphina ist geflohen sowie der Rest des Stadtrates.« Er spuckte erneut auf den Boden. »Sie sind fast alle weg. Sogar die Ärzte - es gibt nur noch ein paar Heiler in den städtischen Klöstern.«
»Magister Vilenius auch? Der war doch gestern noch in der Niklasvorstadt.«
»Keine Ahnung.«
Lucas stockte der Atem. Wenn nun selbst der Kanzler geflohen war … »Das heißt, Ihr lasst uns hier unten verrotten, bis wieder jemand da ist, der über uns richten kann?«, fragte Heinrich fassungslos. »Mein Vater wird das nicht zulassen.«
Pernfuß stieß sich von der Tür ab und trat näher an sie heran. Die Laterne stand jetzt hinter ihm, so dass er nur ein riesiger Schatten zu sein schien. »Im Gegensatz zu dir, Hardegg, glaube ich an das Gesetz. Ich hätte euch schon lange durch meine Leute im Staub irgendeiner Gasse erschlagen lassen können. Aber das Gesetz verbietet es mir, gegen euch vorzugehen. Wenn Studenten etwas verbrechen, muss ich sie der Universität übergeben. Auch wenn das dann in neun von zehn Fällen dazu führt, dass die euch einfach wieder laufenlassen, weil euer Wort gegen das guter, aufrechter Bürgersleute steht. Und alles geht von vorne los. Aber nicht dieses Mal. Dieses Mal ist niemand von der Universität da, der euch übernehmen könnte. Und inzwischen stehen die Türken vor Wien.«
Schweigen füllte den Raum in der Schranne, als die Studenten
darauf warteten, dass Pernfuß weitersprach. »Und wie geht es nun weiter?«, fragte Lucas schließlich.
»Ich habe nicht genug Gerichtsknechte, um mich mit euch zu belasten. Die Zellen werden in den nächsten Tagen sicher voll werden. Ich verbanne euch deswegen aus der Stadt.«
Lucas riss die Augenbrauen hoch. »Ihr lasst uns gehen?«
»Ich verbanne euch«, betonte der
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