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Die Schicksalsleserin

Titel: Die Schicksalsleserin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lena Falkenhagen
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und zog in die schmale Gasse gen Schottentor. »Danke schön, Wolfram.« Madelin verabschiedete
sich und überquerte den vollen Platz. Endlich stand sie vor Sankt Michael.
    Das dreischiffige Langhaus hatte sich kaum verändert, fand die Wahrsagerin, höchstens waren die hellen Steinmauern noch dreckiger geworden als früher. Sie sah sich suchend um, bis sie schließlich auf dem Kirchhof die drei flachen bemalten Karren entdeckte. Dann sah sie auch schon Scheck und Erisbert, die sich wie mehrere Dutzend anderer Menschen auch am Rand des Gräberfeldes um ein Feuer herum niedergelassen hatten. Der Spielmann konnte selbst in einer solchen Situation das Schäkern nicht lassen - er saß mit einer Magd auf einem Holzstumpf und rührte im Topf, der an einem Dreibein über dem Feuer hing. Erisbert war schon wieder bei der Arbeit: Er versuchte, einem Alten, der nur noch Stumpen im Mund hatte, sein Zahntonikum aufzuschwatzen. Franziskus saß in Decken gewickelt an einen Grabstein gelehnt am Feuer.
    Madelin trat in den Feuerschein, doch die Last ihrer Nachricht wog schwer auf ihren Schultern. Als Franziskus aufsah und sie erkannte, lächelte er erfreut, und einen kurzen Augenblick sah sie die Hoffnung in seinen Augen aufblitzen. Sie fühlte einen Stich im Herzen. Dann musste er die schlechte Nachricht in ihrem Gesicht gelesen haben, denn er sah schnell zu Boden.
    »Immer müsst ihr an den Gräbern lagern«, sagte sie. »Das graust mich.«
    Erisbert erblickte die Wahrsagerin und ließ von dem Alten ab. »Madelin! Erzähl, was hat deine Schwester gesagt?«
    Die junge Frau rang um Worte, fand aber keine. »Lass mich, Bert.«
    »Ist denn was passiert? War sie nicht da? Hat sie …« Langsam schien der Groschen auch bei dem Tinkturenverkäufer zu fallen. »Sie hat abgelehnt, hm?«

    Madelin biss sich auf die Lippe und antwortete nicht. Sie nahm einen brennenden Span und ging an den Freunden vorbei zu den Wagen, die sie weiter hinten erblickt hatte. Sie stieg über die rückwärtige Klappe in ihren Karren und entzündete die Kerzenlaterne, die am Haken an der Decke hing.
    Im Innern des Fuhrwerks konnte nicht einmal Madelin senkrecht stehen. Die niedrige Holzdecke war mit einem Sternenhimmel ausgemalt, dessen Farbe an so mancher Ecke bereits verblasst oder abgeblättert war. Rechts und links war je ein Lager mit Fellen und Decken aufgeschlagen, an deren Fußenden zwei Kisten standen, in denen Franziskus und sie ihre persönlichen Habseligkeiten aufbewahrten. In der Kiste des Mönchs lagen auch seine hölzernen Heiligenfigürchen, manche bereits koloriert, viele nicht.
    Madelin legte ihr noch feuchtes und dreckiges Kleid ab, griff sich eine Bürste und bearbeitete es mit kräftigen Strichen. Dann hängte sie es hinaus. Wenn der nächste Regenschauer kam, würde er Staub und Erde herausspülen. Dann ließ sie sich auf ihr Lager fallen. Sie starrte in die kleine Flamme der Laterne, die sie für Franziskus brennen ließ. Irgendwann verschwamm das Licht vor ihren Augen und sie schloss sie, doch der Schlaf wollte sich nicht einstellen. Der Streit mit Anna ging ihr nicht aus dem Kopf. Aber sie konnte Geschehenes nicht ändern.
    Als ein Gewitter sie weckte und ein heftiger Regenguss niederging, schlug sie widerwillig die Augen auf - sie musste doch endlich eingenickt sein. Franziskus’ Lager war noch unberührt. Eine schlimme Vorahnung ergriff von Madelin Besitz. Sie wickelte sich die Decke um die Schultern und eilte hinaus.
    Kalter Regen empfing sie und trieb ihr die Müdigkeit blitzschnell aus den Gliedern. Sie sah sich um und ging an den Grabsteinen vorbei zu der verwaisten Feuerstelle. Ein ungutes
Gefühl beschlich die Wahrsagerin an diesem Ort. Wo war Franziskus? Dann sah sie die einsame, zusammengesunkene Gestalt an dem Kopfstein.
    »Franziskus?«, sprach sie ihn mit zitternden Lippen aus einigen Schritten Entfernung an. »Franziskus!« Doch er rührte sich nicht. Wo waren die Freunde? Warum saß er ganz allein? Die Kälte erreichte ihre Knochen. Franziskus war ihr in den letzten sechs Jahren Vater und Bruder zugleich gewesen. Ohne ihn hätte sie auf der Straße nicht überlebt. Was, wenn Regen und Kälte vollbracht hatten, was die Anfälle begonnen hatten? Wenn er tot war? Sie fürchtete sich davor, den Freund an der Schulter zu berühren, um Gewissheit zu bekommen. Trotzdem streckte sie eine Hand aus. »Franziskus«, sagte sie sanft. Sie versuchte, ihn herumzudrehen, doch er war schlaff wie ein Mehlsack.
    Madelin fühlte sich

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