Die Schicksalsleserin
Küche lag. Ein Lager, eine Kiste, ein paar Kleider zum Wechseln - das war seine ganze Habe, dies war sein Heim. Er teilte es mit fünf anderen Studenten, doch es war ihm mehr ein Zuhause, als er sonst je gekannt hatte. Im Bürgerspital, wo er aufgewachsen war, hatte er nicht einmal das gehabt. Sein einziger Besitz von Wert waren ein paar Instrumente sowie einige Kräuteressenzen und Mittelchen, die er aus den Lectiones mitgenommen hatte. Das medizinische Werkzeug war sein ganzer Stolz. Er besaß einen Rabenschnabel - eine gekrümmte Zange -, eine Kugelzange, drei Wundhaken sowie zwei chirurgische Messer mit kurzer Klinge, für die er sich das Geld vom Essen hatte absparen können. Halbherzig suchte er ein paar weitere Sachen zusammen und steckte sie in die Tasche. Als er ein Holztiegelchen mit blutstillender Paste in die Hand nahm - dieselbe, die er gestern bei dem Zimmermann angewendet hatte - verharrte er, denn seine Finger waren noch immer braun von den Resten des getrockneten Bluts.
Lucas ließ das Tiegelchen in die Tasche fallen und steckte die Hände in eine Schale Wasser, die in einer Ecke auf dem Boden stand. Er bürstete sich die Haut mit Seife, bis sie ganz wund war. Dann fuhr er sich mit den nassen Händen über das Gesicht. Er erstarrte, denn er roch das Blut noch immer - Ansässers Blut. Da fasste er einen Entschluss.
»Bist du soweit?« Heinrich steckte den Kopf zur Tür herein. »Was machst du da?«
Lucas stand auf und trocknete sich mit einem alten Leinentuch ab. »Ich habe mir die Hände gewaschen.«
Heinrich trat in die Kammer ein und musterte ihn eingehend. »Was ist los mit dir? Warum hast du nicht gepackt?«
Lucas fand keine Antwort.
»Du denkst doch nicht etwa darüber nach zu bleiben?«
Sicher, Lucas war kein Landsknecht. Er könnte mit Heinrich die Stadt verlassen, ohne ein schlechtes Gewissen haben zu müssen; Pernfuß hatte ihn ja sogar hinausgeworfen. Und doch konnte er nicht gehen. Man würde hier jeden Mann brauchen, sei es mit dem Hammer oder mit dem Schwert.
»Doch.«
»Ja, warum denn bloß? Wegen des Zimmermanns?«
»Auch seinetwegen. Und vielleicht kann ich hier helfen.«
»Meinst du, es macht den Mann wieder lebendig, wenn du dich in Gefahr begibst?«
»Nein, sicher nicht.« Lucas zuckte mit den Schultern. Er erinnerte sich Pernfuß’ Worte: Der blieb, weil alle anderen ihr Heil in der Flucht suchten. Der Student hatte erst nicht gewusst, was er damit gemeint hatte, doch jetzt glaubte er zu verstehen. Es gab Menschen, die nur an sich selbst dachten, und solche, die sich um andere sorgten. Zu welcher Sorte man gehörte, das entschied man selbst, wenn es hart auf hart kam.
Pernfuß, Hofer, selbst die Geliebte Graf zu Hardeggs - sie
alle blieben in Wien. Schuldbewusst erinnerte Lucas sich an Wilhelm Hofers Worte, das auch Ansässer geblieben wäre, wenn er noch lebte. »Ich kann nicht einfach weglaufen und so tun, als sei nichts geschehen«, sagte er schließlich. »Ich habe einen Mann getötet.«
»Und deshalb hat Pernfuß dich ja auch aus der Stadt geworfen. Meinst du, das macht der einfach wieder rückgängig?«
»Ich kann ihn fragen.«
»Aber du darfst ja noch nicht einmal behandeln! Und selbst wenn du bleiben darfst - man wird dich bestimmt nicht aus den Augen lassen!«
»Ich will auch nicht im Spital helfen. Irgendetwas wird es zu tun geben.«
Heinrich holte Luft, vermutlich, um etwas zu sagen, dann hielt er inne. »Ich kann reden, was ich will, oder? Es wird nichts nützen.«
Lucas nickte.
»Du bist sicher?«
»Ja.«
Heinrich lächelte bedauernd. »Du bist ein freier Mann. Ich jedenfalls werde gehen.« Er reichte Lucas die Hand. »Leb wohl, Bettelstudent.«
»Leb wohl, Stenz.« Nach dem förmlichen Handschlag umarmten sich die beiden Freunde. Sie hielten einander einen Augenblick länger fest als nottat, denn vielleicht war dies ein Abschied für immer. Dann drehte sich Heinrich um und verließ die Kodrei.
Verzagt sah Lucas ihm nach. Sollte er seinerseits versuchen, den Freund zurückzuhalten? Doch Lucas wusste, dass ihm das nicht gelingen würde. Heinrich zu Hardegg kümmerte sich zuerst um Heinrich zu Hardegg. Das war schon immer so gewesen. So lief Lucas zur Tür und rief ihm nach: »Heinrich!«
Der Adelssohn hielt inne und sah zurück. »Viel Glück!« Heinrich zwinkerte ihm zu und winkte. Dann trennten sich die Wege der beiden Freunde.
»Du willst was ?« Pernfuß beugte sich so plötzlich über die Tischplatte zu ihm herüber, dass Lucas
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