Die Schicksalsleserin
es egal. Vor seinen Augen stand unerbittlich der tote Zimmermann, in seinen Ohren klangen die Schreie der frischen Witwe nach. An seinen Fingern roch er
noch immer das trockene Blut. Ihm wurde schon schlecht, wenn er nur ans Essen dachte.
»Es ist nicht deine Schuld, weißt’?«, sagte Heinrich nach einer längeren Pause. »Das mit dem Zimmermann, wie hieß er?« Lucas antwortete wieder nicht. »Na, wie auch immer er geheißen hat, es ist nicht deine Schuld. Der Mann wäre so oder so gestorben, meinst’ nicht?«
Lucas sah immer noch nicht auf, und so redete Heinrich weiter. »Die Wunde war tief, die Blutung stark. Niemand außer uns war da. Du hast getan, was du konntest. Aber zu retten war der Mann von Anfang an nicht mehr.«
»Ansässer«, murmelte Lucas.
»Wie meinen?«
»Ansässer. Der Zimmermann hieß Ansässer.«
»Ah ja, richtig. Ich hatte noch nie ein Gedächtnis für Namen.«
»Und du weißt es nicht.«
»Ich weiß was nicht?«, fragte Heinrich.
»Ob er noch zu retten war.« Jetzt hob Lucas den Kopf. »Wenn ich ein Magister gewesen wäre, mit viel Erfahrung - vielleicht hätte ich von vornherein gesehen, dass die Wunde so tief war. Vielleicht hätte ich eher nach dem Brandeisen gerufen, um das Geäder zu kauterisieren. Vielleicht gibt es ein Dutzend Dinge, die ich hätte machen können, hätte ich’s nur gewusst!« Er legte seine Hände ineinander, um das Zittern zu beruhigen, dann zog er die Knie enger an den Körper. Der Ball in seinem Magen war noch kälter geworden.
»Lucas«, sagte Heinrich eindringlich. »Du bist ein Mann der Tat. Du studierst an der Alma Mater Rudolphina Medizin, weil du Menschen helfen willst. In diesem Beruf sterben Menschen, das liegt in der Natur der Sache - manche kann man retten, andere nicht. Vermutlich hätte auch Magister Vilenius den
Zimmermann nicht retten können. Das liegt allein in Gottes Hand!«
Lucas nickte. Er hatte einen bitteren Geschmack auf der Zunge. »Vermutlich.« Doch der Schatten des Zweifels, der in diesem Wort lag, würde ihn sein Leben lang verfolgen, das wusste er.
Ein Schlüsselbund klapperte gegen das metallene Schloss der Kerkerzelle. Die beiden Studenten sahen einander fragend an, als sich die Tür langsam öffnete. Ein langer Kerl mit großen Ohren und gestutztem Bart stand im Rahmen: Paul Pernfuß, der Stadtrichter. Mit ihm drang Licht in die Zelle. Er stellte die Lampe ab und schloss die Tür hinter sich. Dann lehnte er sich mit dem Rücken dagegen. »Herrschaften.«
Lucas und Heinrich sahen ihm erwartungsvoll entgegen, doch er schwieg. Genoss er seinen Triumph?
»Hat mein Vater Euch endlich in den Arsch getreten?«, fragte Heinrich zu Hardegg.
Die Miene des hochgewachsenen Stadtrichters verfinsterte sich. Das flackernde Licht ließ seine Augen in schattigen Höhlen verschwinden. »Halt den Mund, Hardegg«, knurrte er. »Sonst vergesse ich, dass ich dich hier eingebuchtet habe und werfe den Schlüssel in die Donau.« Der Mann hatte es seit Monaten auf Lucas, Heinrich und einige andere Studenten abgesehen. »Ihr zieht durch die Kneipen und schlagt euch mit den Handwerkern, wo immer ihr hinkommt. Und jetzt ist ein Mann tot. Und warum?«
Lucas senkte den Blick. Er wollte den vorwurfsvollen Blick des Mannes nicht sehen.
»Weil zwei Studenten, die noch nicht einmal zum Bakkalauriat zugelassen sind, glauben, die Regeln würden bloß für alle anderen gelten. Wie üblich.«
»Wir wollten dem Mann nur helfen«, murmelte Heinrich.
»Hätte niemand etwas getan, wäre er noch schneller gestorben.«
»Vielleicht, vielleicht auch nicht«, sagte Pernfuß. »Aber für genau so einen Fall gibt es das Gesetz, dass Studenten nicht behandeln dürfen. Weil sie es noch nicht beurteilen können und mehr Schaden als Heil anrichten. Bei jemandem wie dir, Steinkober, der ein solches Erbe in die Wiege gelegt bekommen hat, ist Hopfen und Malz verloren«, seufzte er. »Der Vater, ein stadtbekannter Aufwiegler und Unruhestifter, stirbt im Bellum latinum in der Schlacht mit den Bürgern.«
Lucas hatte von dem Kleinkrieg, der vor fünfzehn Jahren zwischen Studenten und Bürgern in Wien stattgefunden hatte, nur aus Erzählungen gehört. Was angeblich wegen beißenden Spotts über das Cingulum , den Studentengürtel, in einem Hurenhaus begonnen hatte, hatte sich auf die ganze Stadt ausgebreitet und in blutigen Auseinandersetzungen mit dem Schwert geendet. Schließlich waren die Studenten sogar der Stadt verwiesen worden und in einem Protestmarsch vor den
Weitere Kostenlose Bücher