Die Schicksalsleserin
Stadtrichter unterstellt waren, um die Ordnung aufrechtzuerhalten. Er hielt den Mann am Ärmel fest. »Wo sammeln sich die Flüchtlinge? Die, die gen Krems wollen?« Erst als der Mann sich umwandte, erkannte
der Student, dass es sich um Wilhelm Hofer handelte, den Zimmermann, der Heinrich und ihn in die Schranne gebracht hatte.
»Ach, wieder frei, was?« Der Alte trug ein braunes Wams, lederne Beinkleider, einen Hut und feste Stiefel. Der Bart war voll und grau gesträhnt, das Haupthaar aber zu einem schütteren Kranz zurückgewichen. »In dieser Stadt ändert sich aber auch nichts. Ihr bringt einen von uns um und kommt damit durch.« Das Gesicht mit den vielen Sorgenfalten verzog sich vor Wut. »Ich sag dir, Steinkober, stünden nicht die Osmanen vor der Tür, würde ich durchgreifen!«
Lucas senkte die Lider. Dabei fiel sein Blick auf das Schwert an der Seite des Zimmermannes. »Ihr habt Euch bewaffnet?«
Hofer starrte ihn für ein paar Augenblicke an. »Ansässer und ich sind den Gerichtsknechten beigetreten«, sagte er. »Um Wien zu schützen und die Ordnung zu bewahren. Und nur deshalb dreh ich dir nicht auf der Stelle den Hals um, Steinkober!«
Lucas nickte. »Es tut mir aufrichtig leid um Euren Zunftgenossen«, sagte er leise.
»Das hilft ihm jetzt ja nicht mehr viel, was?«
»Lasst ihn in Ruhe«, sagte Heinrich. »Er wollte nur helfen!«
Hofer schnaufte abfällig. »Und seine Witwe und den Kindern, wer hilft denen? Wohin sollen die ohne den Mann gehen? Darüber habt ihr Studenten euch noch nie Gedanken gemacht, wenn ihr eine Prügelei vom Zaun gebrochen habt, was?«
»Und macht ihr feinen Bürgersleut’ euch darum Gedanken, wenn ihr uns verspottet und reizt?«, gab Heinrich ungehalten zurück.
»Heinrich, bitte«, sagte Lucas und legte ihm die Hand auf die Brust, um ihn zurückzuhalten. »Wir wollen nicht schon wieder streiten, oder?« Die Feindschaft mit den Handwerkern
war beiderseitig, doch Lucas hatte den Eindruck gewonnen, dass Hofer es ganz besonders auf ihn abgesehen hatte. Nun wandte er sich an den Alten. »Meister Hofer, bitte, wo sammeln sich die Flüchtlinge?«
»Vor den Schotten«, gab Hofer knapp zurück. »Zur zehnten Stunde wird losgezogen, dann ist’s vorbei.« Er schenkte Heinrich noch einen letzten finsteren Blick. »Und jetzt seht’s bloß zu, dass ihr mir aus den Augen kommt.« Dann wandte er sich ab, der Schranne zu.
»Das heißt, wir haben noch fast drei Stunden zum Packen«, sagte Heinrich. »Dann wollen wir mal.«
Die beiden Studenten eilten an den durch die Sonne stinkenden Bänken der Knochenhauer vorbei über den alten Fleischmarkt zum Haus Aureus Mons oder auch Goldberg, das bei Sankt Laurenz lag. Die Kodrei bestand aus einem heruntergekommenen Fachwerkgebäude, das sich bereits bedenklich schief an die Wand des nächsten Hauses anzulehnen schien. Es besaß zwei große vorkragende Obergeschosse, einen Dachboden sowie einen Keller. Die einst farbig gestrichenen Balken lagen längst blass im Gemäuer, und der Lehm, der zwischen die Fächer gebracht worden war, brach bereits an vielen Stellen so stark heraus, dass kalte Luft und Feuchtigkeit ins Innere dringen konnten.
Ein schmaler Flur führte ins Haus, eine Stube mit Feuerstelle und großem Tisch direkt daran anschließend diente zum Lernen, zum Essen und zum Feiern. Der Zustand des Hauses war im Innern noch verlotterter, als man ihm von außen ansah. Die Stoff- und Strohbündel der Betteljungen lagen überall in den Fluren. Die einzelnen Kammern waren so unaufgeräumt, wie es nur Studenten fertigbrachten, die mit sechs bis zehn Männern zusammenwohnten. Lucas warf Heinrich einen schrägen Blick zu. Wer wie er freiwillig hier wohnte, konnte
nicht ganz bei Trost sein, besonders wenn die Alternative ein sauberes Kämmerchen im Studentenheim der Rosenburse war. In Friedenszeiten bot der Goldberg sicher vier Dutzend Studenten und beinahe doppelt so vielen Bettelknaben ein billiges Heim - viel zu viel für das Gebäude.
Überall fanden sich die Spuren eines mehr oder weniger hastigen Aufbruchs. Kisten standen durchwühlt neben den Bettstätten, abgetragene Kleidungsstücke lagen herum, ungewaschene Weinkrüge und Holzteller standen auf dem Fußboden und den wenigen Tischen.
Das Chaos war heillos. Doch die Räume waren leer. Die Stille in dem Gebäude irritierte Lucas.
Während Heinrich in das obere Stockwerk eilte, um seine Habseligkeiten zusammenzuräumen, schritt Lucas zu seiner Kammer, die unten hinter der Stube und
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