Die Schicksalsleserin
betrogen. Sie hatten es bis hierhergeschafft - und nun erhielt der Freund nicht einmal die Chance, den Kampf ums Überleben anzutreten? »Oh, Franziskus …«
Auf einmal blinzelte der Freund, und ihr Herz machte einen freudigen Satz. »Madelin?«, murmelte er. Franziskus sah aus, als wüsste er gar nicht, wo er sich befand. »Mir ist kalt.«
»Franziskus!« Die Wahrsagerin breitete die Arme mit der Decke aus und schlang sie um den Freund, um ihn vor dem Regen zu schützen. »Komm, du musst raus aus der Kälte!« Sie half Franziskus beim Aufstehen und führte ihn in den Wagen. Dort zog sie ihn aus und hüllte ihn auf seinem Lager in alle trockenen Decken, die sie finden konnte, und schlüpfte dazu. Sein ausgemergelter Körper schien völlig unterkühlt zu sein. Sie schmiegte sich an ihn, um ihn zu wärmen. »Oh, Franziskus. Es tut mir leid. Es tut mir so leid.«
Der Ikonenmaler strich ihr schwach über die Wange. »Ist nicht deine Schuld. Der Herr ruft mich zu sich. Wer wäre ich, dass ich ihn von meiner Türschwelle weise?«
Madelin weinte. Jetzt tröstete er sie. Sollte es nicht umgekehrt sein? Doch in diesem Augenblick hatte sie keine Kraft für ihn. »Ich will aber nicht, dass du gehst!« Der Schreck von eben saß ihr noch tief in den Knochen. Eines wusste sie mit erschreckender Deutlichkeit: Wenn man nicht herausfand, was mit Franziskus los war, dann würde er sterben. »Es werden ja wohl noch Magister von der Universität hiergeblieben sein«, murmelte sie. »Wir finden jemanden, der dir hilft!«
Doch die Wahrsagerin musste an die Schwester denken, die hartnäckig in der Vorstadt ausharrte, und stellte fest, dass Franziskus nicht mehr der Einzige war, der ihre Hilfe brauchte. Madelin fasste einen Entschluss. Vielleicht konnten Anna und sie sich gegenseitig helfen. Sie schmiegte die Wange an den Kopf des Freundes und sprach mit starrem Blick ins Kerzenlicht: »Ich gehe morgen nochmal hin.«
Franziskus blinzelte verwirrt. »Wohin?«
»Zu Anna, Depperl.«
»Aber, Madelin, du …«
Sie unterbrach ihn. »Franziskus, Anna wirkte so hilflos! Sie weiß nicht mehr ein noch aus und klammert sich an ihr Haus, als könne sie sich darin vor’m Rest der Welt verbergen. Und ich habe auch noch mit ihr gestritten, als lebten wir noch zusammen unter einem Dach. Das muss aufhören! Ich gehe morgen früh gleich noch einmal hin und hole sie aus der Vorstadt raus. Und vielleicht kann ich sie ja doch um ein wenig Geld für den Arzt bitten.«
Der Freund musterte sie ernst. Er sah aus, als wolle er noch etwas einwenden, doch er schwieg. Schließlich lächelte er. »Mach das, Madelin. Vielleicht klappt es ja.« Er machte eine Pause und suchte die Wärme ihres Leibes. »Gehen wir noch auf den Kirchturm von Sankt Stephan?«
»Wenn du magst. Warum ausgerechnet der?«
»Weil er so hoch ist«, sagte Franziskus. »Man kann bestimmt das ganze Land von dort oben sehen.«
»Dann machen wir das«, erwiderte sie mit erstickter Stimme. »Nachdem ich bei Anna war.«
Franziskus antwortete nicht, obwohl sie an seinem Atem hörte, dass er nicht schlief. Irgendwann verlöschte die Kerze in der Laterne, und die Nacht beanspruchte auch diesen Ort für sich.
KAPITEL 4
H olz scharrte auf Stein, als die Schalen in die Kerkerzelle geschoben wurden. »Essen, ihr Hundsfotte!«, rief ein Gerichtsknecht, bevor er die Tür wieder schloss.
Heinrich stand auf, um in dem zarten Licht, das durch vergitterte Fenster oben in der Mauer drang, die Holzschalen zu holen. Dann ließ er sich wieder im Schneidersitz auf das Lager fallen.
Lucas war nicht hungrig, denn dort, wo sein Magen gewesen war, schien nun ein aufgeblähter, kalter Ball zu wachsen. Der Student saß neben Heinrich in der Ecke der kargen Kammer, die Stirn hatte er auf die angezogenen Knie gelegt. Das Stroh stank nach mehreren Generationen von Insassen.
»Willst’ nicht doch etwas essen?«, fragte Heinrich mit vollem Mund und schob ihm eine Schale zu. Doch Lucas schüttelte bloß den Kopf.
»Es muss bestimmt schon Frühstückszeit sein«, sagte Heinrich. Eine Weile waren nur seine Kaugeräusche und das Schaben des Holzlöffels in der Schale zu hören. »Hafergrütze«, grunzte er dann angeekelt. »Man merkt, dass die hier in der Schranne sonst nur Weiber und gemeine Schuldner einsperren.«
Wilhelm Hofer hatte sie gestern direkt in die Schranne zum Stadtrichter Paul Pernfuß gebracht. Der hatte mit finsterer Miene Anweisung gegeben, sie in dieses Loch stecken zu lassen. Doch Lucas war
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