Die Schicksalsleserin
so viel besser mit Türmen ausgestattet war als die Südmauer. Der breite Fluss, der hier viele Dutzend Schritt maß, hatte stets die größere Gefahr dargestellt. Lucas schüttelte in Gedanken versunken den Kopf. Damals hatte vermutlich niemand damit gerechnet, wie groß das Heer der Osmanen sein könnte. Er fragte sich, ob sie diese merkwürdigen Wüstenkreaturen mitbringen würden, die er mal auf einer Zeichnung in der Universität gesehen hatte. Er hatte vergessen, wie man sie nannte, doch das Aussehen war einprägsam gewesen: Sie wiesen einen seltsam gebeugten Hals und einen riesigen Buckel auf dem Rücken auf.
Lucas ging in den Salzgries, und Hofer folgte ihm in geringem Abstand. Das angespannte Schweigen machte dem Studenten zu schaffen. Schließlich hielt er es nicht mehr aus. Irgendwie musste er dem Zimmermann doch verständlich machen
können, dass er Ansässer nichts Böses gewollt hatte. »Meister, bitte versteht doch. Ich wollte Eurem Zunftkameraden wirklich nur helfen«, begann er. »Wenn niemand etwas getan hätte, dann wäre er …«
Doch kaum war Hofer ebenfalls von den Stufen getreten, griff er nach Lucas’ Wams, drehte den Stoff und zog ihn grob heran. Der Mann war erstaunlich kräftig und schien sich von seiner verheilenden Wunde nicht an Handgreiflichkeiten hindern zu lassen. »Komm mir nicht mit ›dann wäre er auch gestorben‹, Steinkober! Du hast es vermurkst und Ansässer sterben lassen!«
»Aber ich wollte …«
»Was du wolltest oder nicht wolltest ist mir egal, Bürschlein. Aus dieser Schlinge wirst du deinen Kopf nicht herausreden!« Hofer wand die Hand und drehte damit den Stoff des Wamses, so dass Lucas kaum noch Luft bekam.
Der Student griff nach Hofers Handgelenk und verdrehte es, bis der das Wams losließ. »Ich will mich nicht mit Euch streiten, Mann! Aber ich werde auch nicht …«
Hofer schlug ihm hart mit der anderen Hand auf den Unterarm. Schmerzen durchzuckten Lucas’ Elle, und er ließ nun seinerseits das Handgelenk des Zimmermannes los. Schnell sprang er ein paar Schritte zurück, um aus der Reichweite des Gegners zu kommen.
»Fass mich nie wieder an, Bürschlein!«, knurrte der alte Mann nun.
»Dasselbe gilt für Euch«, erwiderte Lucas gereizt. Er hielt sich den pulsierenden Arm. Der Mann hatte gut getroffen - genau auf den Muskel. »Verdammt!«, fluchte er dann. »Das hat doch alles keinen Sinn. Ihr wollt Euch prügeln? Nur zu, aber nicht mit mir! Geht lieber zu Pernfuß, der reibt sich vermutlich schon die Hände vor Schadenfreude!« Der Schmerz ließ
nach, doch die Entschlossenheit blieb. »Ich mache die Runde alleine weiter, bevor wir uns noch gegenseitig umbringen.«
»Mach nur weiter so«, knurrte Hofer. »Wir sollen zusammen gehen, damit du spurst!«
Doch Lucas hörte ihm nicht länger zu. Er drehte sich um und folgte dem leichten Gefälle des Salzgrieses hinunter zur Mauer an der Donau. »Weiß Gott, mit meinem Zeugnis bring ich dich schon noch aufs Schafott!«, rief Hofer ihm nach.
Noch immer fluchend hielt Lucas schließlich auf der Höhe des Fachturms inne. Was hatte sich Pernfuß dabei gedacht, Hofer und ihn aufeinanderzuhetzen? Niemandem war geholfen, wenn sie einander umbrachten, im Gegenteil - der Stadtrichter hätte nur noch mehr Ärger an den Hacken, wenn sich die Gerichtsknechte uneins wurden. Und an dem Problem würde sich nichts ändern - Hofer forderte, dass Lucas auf das Schafott käme. Dagegen konnte nicht einmal Pernfuß etwas tun, denn Hofer würde Lucas zur Not selbst zur Hinrichtung prügeln.
Der Student rieb sich die Augen. Oder war es genau das, was Pernfuß beabsichtigte? Wollte er, dass Hofer und Lucas es untereinander mit den Fäusten regelten, damit es nicht zur Klage käme? Wenn die beiden Parteien sich aneinander ihr Mütchen kühlten, dann wäre Pernfuß fein raus. Das wäre ein Schachzug, der dem Richter ähnlich sähe. Doch Lucas würde ihm diese Genugtuung nicht geben, er würde nicht den Kopf verlieren!
Obwohl er damit die Route verkürzte, entschloss Lucas sich, den Ruprechtssteig zu nehmen, der vom Ufer hinauf durch eine Hausdurchfahrt zum alten Pfarrhof bei der Kirche Sankt Ruprecht führte. Die kleine Bruchsteinkirche gehörte mit zu den ältesten Gebäuden der Stadt und unterstand dem Schottenkloster. Damit blieb sie wie die Klöster weiterhin streng römisch-katholisch - während sich in den meisten Kirchen
Wiens seit ein paar Jahren Luthers reformatorische Lehren durchgesetzt hatten.
Fast wirkte das Gemäuer,
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