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Die Schicksalsleserin

Titel: Die Schicksalsleserin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lena Falkenhagen
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angezündet hatten, noch immer brannten. Manche Häuser waren von dicken Rauchwolken umgeben oder wirkten wie abgestorbenes Gewebe am Rande einer schwärenden Wunde.
    »Ich dachte, Graf Salm hätte die Vorstädte abbrennen lassen, um den Osmanen die Deckung zu nehmen«, stieß Madelin aus. »Aber ich sehe noch ausreichend Deckung.«
    Lucas erkannte, dass sie Recht hatte. Der Schaden der Brände hatte von unten katastrophal ausgesehen. Von oben wirkte er lächerlich gering. Noch immer gab es Türme, die beinahe so wehrhaft wie zuvor wirkten, und die Wälle der Niklasvorstadt und von Teilen des Bollwerks bei Sankt Anton würden mehr als ausreichend Schutz für ein ganzes türkisches Regiment bieten. Das befürchteten offenbar auch die Befehlshaber Wiens, wie Lucas nun sah: Ein großer Trupp Fußsoldaten fiel aus dem Kärntner Tor aus.
    Irgendwie schaffte Madelin es, sich erneut durch die Menge zu drängeln, um nach Westen zu blicken. Lucas folgte ihr und hielt die Hand über die Augen, denn die abendliche Sonne blendete durch die Wolkendecke hindurch. Hier schien noch nicht jeder Fußbreit Boden von osmanischen Truppen eingenommen. Bäume, Buschwerk und so mancher Kirchturm - sicher von Sankt Ulrich sowie dem Dorf Als - ragten in der Ferne auf, als sähe man eine unberührte Landschaft vor sich. Dann
bemerkte Lucas den Keil aus Reitern, der in zügigem Galopp die Stadt umrundete.
    Auf den zweiten Blick erkannte der Student, dass er sich in der Unberührtheit getäuscht hatte: In der Ferne rauchte eine der Kirchen. Als ein Reitertrupp hinter dem Wall der Alservorstadt verschwand, hatte er plötzlich den Eindruck, dass die Befestigung nicht mehr dem Schutz nach außen, sondern nach innen diente.
    »Wenn das wirklich zweihunderttausend Soldaten sind, verstehe ich, warum die Wiener alle weggelaufen sind«, sagte Madelin leise.
    »Ich nicht«, erwiderte Lucas. »Sie überlassen Hab und Gut kampflos dem Feind.«
    »Und warum sind sie dann nicht geblieben? Lieben die Wiener ihre Stadt nicht?«
    »Doch, ich schätze schon.« Die Frage hatte Lucas auch schon bewegt. »Erzherzog Ferdinand hat die Bürger fast ganz entmündigt«, erklärte er. »Vorher hat der Rat die Stadt selbst regiert und sogar große Politik gemacht. Sie haben über manchen Krieg oder Frieden entschieden.«
    »Und das hat Ferdinand gestört.«
    »Mächtig sogar«, bestätigte Lucas. »Er fand, dass kein Rat von Bürgerlichen über solche Dinge entscheiden könne - und getraut hat er ihnen wohl auch nicht. Daher hat er den Rat fast vollständig seiner Befugnisse beraubt und regiert die Stadt jetzt selbst.«
    »Und die Bürgersleute vonWien zeigen ihm eine lange Nase, wenn es um die Verteidigung geht?«
    »Ich schätze, sie haben einfach nicht mehr so viel zu verlieren wie früher«, mutmaßte Lucas. »Wenn Wien noch ganz ihnen gehörte, würden vielleicht mehr von ihnen darum kämpfen.«
    Fetzen von Musik drangen zu ihnen herauf. Lucas lehnte sich
gegen die festen Mauern des Stephansturmes, um besser hinausschauen zu können. Tatsächlich war der Weitblick, den die Höhe gestattete, erstaunlich. Er sah einen Zug anmarschieren, der sich durch seine Disziplin von allen anderen unterschied. Die Männer trugen türkische Feldzeichen und prachtvolle Gewänder - sie funkelten hell in der Nachmittagssonne. Die Töne von Pauken, Trompeten und Schalmeien wehten herüber.
    »Das muss der Feldherr sein«, murmelte Lucas und wies auf den prachtvollen Zug. »Oder vielleicht Sultan Süleyman persönlich.«
    Walther schüttelte neben ihm den Kopf. »Das ist Ibrahim Pascha«, sagte er und spie auf den Steinboden. »Dahinter folgen die rumelischen Lebensreiter.«
    »Ibrahim Pascha? Wer ist das?«, fragte Lucas.
    »Der Feldherr des Sultans. Sein griechischer Günstling. Ein verdammter Intrigant.«
    »Wenn man den Gerüchten glauben darf, auch der Liebhaber des Sultans«, mischte sich Madelin ein.
    Lucas wusste nicht so recht, was er davon halten sollte. Waren die Türken so verdorben? »Woher weißt du das?«
    Madelin zuckte mit den Schultern. »Ibrahim Pascha eilt sein Ruf voran. Der Sultan soll ein gerechter Mann sein. Er ist der Wille, der den Feldzug der Osmanen vorantreibt. Ibrahim Pascha aber ist der Kopf, der ihn plant. Er soll Spione an jedem Hof besitzen, Geheimnisse jedes wichtigen Mannes kennen und diplomatische Bande zu den Königshöfen ganz Europas geknüpft haben. Wenn man seinen Bewunderern glaubt, ist er ein Genie. Seine Feinde halten ihn für ein Ungeheuer.«

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