Die Schicksalsleserin
halten, die bloß geschlachtet werden muss. Streitereien sind da kaum zu vermeiden. Ich kann mir niemanden vorstellen, der besser dafür geeignet wäre, die Wiener Bürger zu schützen, als dich.«
Lucas schnaubte. »Ich schon - so ziemlich jeder Mensch, den ich kenne.«
Pernfuß beugte sich wütend vor. »Du wolltest doch helfen, oder? Glaubst du, du kannst dir die Aufgaben aussuchen? Du tust, was ich dir sage.« Der Mann lehnte sich wieder zurück. »Du bekommst einen neuen Begleiter. Erzählt mir der, dass du immer noch nur Schweinemist im Kopf hast, klag ich dich als Spion an und lass dich aufknüpfen. So einfach ist das.«
Lucas ballte die Hände zu Fäusten, um sich zu beherrschen -
dem Stadtrichter eine wütende Antwort entgegenzuschleudern würde jetzt auch nichts bringen.
Pernfuß seufzte schließlich. »Also, raus mit dir. Warte draußen auf deinen neuen Begleiter. Geh mit ihm die Patrouille und sieh zu, dass die Leute sich nicht an die Gurgel gehen. Verstanden?«
»Oh ja«, erwiderte Lucas. »Ich verstehe sehr gut.« Damit drehte er auf dem Absatz um und ging in den Vorraum der Schranne.
Hier saß ein Gerichtsknecht an einem großen Tisch, ein junger Bursche, und putzte allen blanken Stahl, der sich finden ließ. Man konnte den Flaum auf seinen Lippen noch keinen Bart nennen. Befangen wich er Lucas’ Blick aus. Unter den Gerichtsknechten waren Lucas und Heinrich berüchtigt. Jetzt war der junge zu Hardegg fort, und Lucas hatte sich selbst für die Gerichtsknechte entschieden. Der Student seufzte und versuchte, seinen Ärger herunterzuschlucken. Er würde einen Weg finden müssen, mit seinen neuen Weggefährten auszukommen.
»Welchem Hauptmann ist der Bereich zwischen Salztor und Rotenturmtor zugeteilt worden?«, fragte Lucas.
»Weiß ich nicht auswendig.« Der Bursche deutete auf eine grobe Skizze auf einem Bogen Papier, der an einer Wand hing.
Lucas trat heran und betrachtete den Plan mit Interesse. Der Mauerring der Stadt Wien hatte darauf die grobe Form eines Eis. Pernfuß hatte mit Kohlestift Linien und Kringel gezogen sowie diverse Namen notiert. Er neigte den Kopf, um die Zeichen zu entziffern.
»Auf dem Plan kann man kaum etwas erkennen«, bemerkte er. »Woher stammt der?«
»Keine Ahnung. Herr Pernfuß sagt, er habe ihn von einem alten
Plan aus der Bibliothek abmalen lassen, der mehr ein grober Überblick über die Stadt war.«
»Aus der Bibliothek«, wiederholte Lucas. »Vielleicht sollte ich dort mal nach dem Original schauen, denn diese Kopie hier macht nicht viel her. Andere Pläne gibt es nicht?«
»Na.« Der Bursche schüttelte den Kopf. »Vor einer Weile war mal ein Geometer da und hat Vermessungen angestellt. Aber ob daraus jemals ein Plan entstanden ist, weiß ich nicht.« Er beobachtete Lucas stirnrunzelnd. Der Student konnte sich die Gedanken ausmalen, die in dem Kopf des Jungen vorgingen - vermutlich fragte er sich, ob man jemandem wie ihm mit so wichtigen Daten trauen konnte. Doch der Stadtgardist hielt Lucas nicht auf, als er die Namen las.
»Was ist mit den Werten geschehen?«, fragte der Student.
»Werte? Was für Werte?«
»Den Maßen. Den Entfernungsmaßen, die der Geometer genommen hat.«
Der Gerichtsschreiber zuckte mit den Schultern. »Weiß nicht. Das musst du doch besser wissen.«
»Ich? Warum?«
»Weil der Geometer mit Leuten von der Universität gearbeitet hat.«
»Weißt du, wie groß die Universität ist? Die besten Zeiten mögen vorbei sein, aber es schreiben sich noch immer mehrere hundert Studenten im Jahr in die Matrikel ein.«
Der Bursche pfiff anerkennend durch die Zähne. »Warum sind die besten Zeiten vorbei?«
»Ich schätze, erst wollten die Lutheraner ihre Söhne nicht in eine katholische Universität schicken. Doch seit Wien in großen Teilen Luther folgt, haben andererseits die Katholiken ein Problem mit der Stadt.« Er seufzte. »Mit Luther ist alles komplizierter geworden.«
»Folgst du ihm nicht?« Der Junge kniff die Augen zusammen, als hätte er noch einen Grund gefunden, Lucas nicht zu mögen.
»Doch, natürlich. Was denkst du denn?«, sagte Lucas. »Luther ist der Mann, auf den die Welt seit Jahrhunderten gewartet hat.« Lucas war froh, dass der Mönch aus Wittenberg dazu aufrief, den aufgeblähten Sakramenten, überflüssigen Traditionen und dem Unsinn der Heiligenverehrung endlich ein Ende zu machen - ganz zu schweigen von der Dekadenz der Kirche und dem Ablasshandel.
»Ach so.« Der Junge wirke überrascht und beinahe
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