Die Schicksalsleserin
als krümme es sich unter dem Gewicht der Jahrhunderte, die es hier bereits stand. Die Fugen waren vom Regenwasser tief ausgehöhlt, der Giebel des Seitenschiffes krümmte sich bedenklich. Die Kirche lag in einem Rechteck aus Gebäuden, die ohne Zweifel später errichtet worden waren und im Süden den Kienmarkt bildeten. Die Häuser in der Nachbarschaft waren wie so viele in Wien mit Wein berankt und wiesen kleine hölzerne Regendächer über Türen und Fenstern auf. Beides verlieh dem engen Platz mit der kleinen Kirche eine beinahe ländliche Gemütlichkeit.
Als Lucas Sankt Ruprecht umrundet hatte, blieb er überrascht stehen. Dort standen drei niedrige Karren, deren Bemalung unter mehreren Lagen von Schlamm weitgehend verborgen war. Ein großer, dünner Mann im braunen Kaufmannsgewand mit haubenartiger Kappe sowie ein geduckter, aber kräftiger Kerl mit Glatze fütterten gerade die Pferde, indem sie ihnen Futtersäcke um die Mäuler banden. Der Student erkannte die Karren auf den ersten Blick, den Fahrenden im Kaufmannsgewand wegen der Kappe erst auf den zweiten. Es handelte sich um den Mann, den er vor den Hufen der Pferde in der Niklasvorstadt gerettet hatte. Hatte Madelin sie gestern nicht mehr gefunden? Als die junge Frau selbst aus einem der Karren stieg und zum Brunnen hinüberging, vergaß Lucas von einem Augenblick auf den nächsten seinen Ärger mit Hofer und Pernfuß.
Ihre schlichte Kleidung unterstützte die schönen Züge und die schlanke Figur nur noch. Sie hatte sich ein rotes Tuch mit Goldstickereien um den Kopf gewickelt, um die Haare zurückzuhalten, die sich in einem Wasserfall über ihren Hinterkopf und die Schultern ergossen. Darin mischten sich Farben von dunklem Braun bis zu beinahe blonden Strähnen.
Lucas stellte fest, dass sie auf den ersten Blick klein und zerbrechlich wirkte. In ihren Zügen aber standen eine Entschlossenheit und Stärke, die man nicht bei vielen Leuten fand. Sie wirkte exotisch - Lucas fiel zum ersten Mal auf, dass ihr Äußeres auf osmanisches Blut hindeuten mochte. Doch das hatte für ihn keine Bedeutung. Als die junge Frau ihn erblickte und unwillkürlich ein Lächeln über ihr Gesicht huschte, wurde ihm ganz warm.
»Lucas«, sie winkte ihn herüber. Ein Schauer fuhr Lucas das Rückgrat hinunter. Ihre tiefe Altstimme erinnerte ihn an weichen, bernsteinfarbenen Honig. Er gesellte sich beim Brunnen zu ihr, wo sie einen Eimer hinunterließ. »Warum seid ihr noch hier?«, fragte er.
»Wir haben es nicht mehr zum Flüchtlingszug geschafft.«
»Das - das tut mir leid.« Er sah sich um. »Aber du hast deine Freunde gefunden, wie ich sehe.«
»Ja, wir sind wieder zusammen. Das ist das Wichtigste.« Lucas hörte die Dankbarkeit in ihrer Stimme.
»Und deine … war es deine Schwester?«
»Anna, ja. Sie ist mit dem Zug hinausgekommen. Hoffentlich geht es ihr gut.«
»Vermutlich besser als uns bald. Seid ihr hier ausreichend versorgt?«
Madelin zuckte mit den Schultern. »Nicht schlechter als sonst auch. Für heute haben wir Futter für die Tiere und Essen für unsere eigenen Mägen. Und morgen …« Besorgnis huschte über ihre Züge, und sie seufzte. »Morgen müssen wir irgendwie ein bisschen Geld verdienen.«
»Aber das sollte euch als Gauklern in einer Stadt voll Landsknechten nicht schwerfallen, oder?«
»Scheck kann in den Weinstuben Lieder spielen, Erisberts Tinkturen sind immer beliebt, und Franzl hat noch ein paar
Heiligenfigürchen, die wir verkaufen können. Ich selbst habe es nicht so leicht, seit meine Karten verbrannt sind.«
»Das verstehe ich nicht. Wie können ein paar Spielkarten so wichtig sein?«
»Ich verdiene damit mein Geld.«
»Du lebst vom Glücksspiel? Das wäre recht unerhört für eine Frau.«
»Nein. Ich bin Wahrsagerin.«
»Deshalb bist du beinahe in die Flammen zurückgesprungen!« Er war beinahe erleichtert. Bisher hatte er noch nicht darüber nachgedacht, was sie sonst bei den Fahrenden tun könnte. Fahrende Frauen waren in der Regel Landsknechtshuren.
»Ja. Die Karten waren mein kostbarster Besitz.«
»Kannst du dir nicht neue machen lassen?«
Die junge Frau lächelte unwillkürlich, doch die Trauer wich dabei nicht aus ihren Zügen. Lucas hatte den Eindruck, dass ihr diese Karten mehr bedeutet hatten als nur eine Einnahmequelle. Er wollte, er könnte irgendetwas tun, um sie aufzumuntern.
»Sicher gibt es Spielkarten zu kaufen«, sagte sie. »Aber die meisten sind viel schlichter und dafür immer noch sehr, sehr teuer. Wir
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