Die Schicksalsleserin
haben einfach kein Geld dafür.«
»Was werdet ihr also tun?« Er half ihr jetzt dabei, den Wassereimer aus dem Brunnen zu hieven.
»Ich weiß noch nicht. Erst einmal richten wir uns hier ein, damit wir aus dem Weg sind.«
Lucas nickte. »Ihr habt einen guten Platz gewählt, Madelin. Hier habt ihr ein wenig Ausblick über die Mauer, wenn ihr wollt. Die Stadt ist zwar groß, aber ich schätze, sie wird einem auf die Dauer recht eng werden.«
»Auf Dauer?«, fragte Madelin. »Wie lange werden wir denn hierbleiben müssen?«
Der Student zuckte mit den Schultern. »Ich bin kein Stratege. Manche Leute unken, die Mauern würden in drei Tagen fallen.«
»Das wollen wir nicht hoffen«, murmelte sie und ließ ihren Blick besorgt über die Gefährten gleiten.
»Es kann aber auch drei Wochen dauern. Oder drei Monate.«
»Drei Monate?«
»Na ja, drei Monate sind wohl unwahrscheinlich«, erwiderte Lucas. Der Galgenhumor überkam ihn. »Vorher sind wir verhungert.«
»Beruhigende Aussichten«, erwiderte sie trocken. Dann hob sie den Wassereimer an und schleppte ihn hinüber zu den Pferden. Er wich nicht von ihrer Seite. »Drei Wochen freiwillig an einem Ort zu bleiben, ist schon schlimm genug«, sagte sie dann. »Aber drei Monate eine belagerte Stadt nicht verlassen zu können? Da werden die Mauern sicher schnell eng und …«
Lucas bekam nicht mehr zu hören, was die Wahrsagerin eigentlich hatte sagen wollen, denn die Glocken von Sankt Stephan schlugen laut und hastig an. Er blickte irritiert zum Himmel. Die Glocke läutete selbst nach dem zwölften Schlag noch weiter. Das war eine Alarmglocke! Dann fielen auch andere Glocken in das Dauerläuten ein.
»Was heißt das?«, fragte Madelin beunruhigt.
»Dauerläuten auf Sankt Stephan kann eigentlich nur eines bedeuten - Krieg. Komm!« Er zog sie durch die Stadt.
Er betrat den Kirchhof von Sankt Stephan und suchte sich seinen Weg um die Kirche herum, bis er am Südturm angelangt war. Erstaunt stellte Lucas fest, dass die Tür zur Treppe offen stand.
»Lassen die die Türen hier immer unverschlossen?«, fragte Madelin, die sich offenbar auch darüber wunderte.
»Meist ist jemand oben, erst recht, seit der Turm als Ausguck
verwendet wird. Es gibt nicht genug Schlüssel, die man an all die Leute verteilen könnte, die hier demnächst Zugang haben werden.«
Lucas ging hinein und stieg schnell die schmale Wendeltreppe hinauf. Er hörte, wie Madelin ihm folgte. Bereits nach wenigen Wendungen erfasste den Studenten ein leichter Schwindel. Nur mit einer Steinsäule in der Mitte wand sich die Treppe höher und höher. Doch der Grund für seine Schwummrigkeit war nicht die Höhe; die Dunkelheit machte ihm zu schaffen. Endlich duckte er sich unter einer niedrigen Türöffnung hinein in die Türmerstube.
Hier oben fand Lucas allerdings nicht nur den Landsknecht, der die Brandwache ersetzte, und den Türmer, der die Glocke anschlug. Fünf weitere Männer, teils Landsknechte, teils Bürger, standen an den Fensteröffnungen und starrten nach Osten. Der Student ignorierte die schöne Aussicht über das Wiener Becken und gesellte sich zu den Männern. Er spürte, wie die kleine Frau sich neben ihn stellte, um an seinem Arm vorbeizusehen.
Der Anblick schlug Lucas in einen Bann aus Faszination und Schrecken. Das in den späten Strahlen der Sonne orange beleuchtete Land wirkte nicht grün von den Wiesen oder goldfarben von den Feldern. Es schien vielmehr dunkel, denn überall marschierten die Truppen der Osmanen heran.
»Wie ein Meer«, flüsterte Madelin voll Schrecken. »Sie überschwemmen das Land wie eine Flutwelle.«
Hinter ihnen kamen mehr und mehr Männer in die Türmerstube. »Ja«, murmelte Lucas. »Sieht so aus, als würde das wohl alles recht schnell gehen. Wenn Graf Salm noch ein bisschen Verstand in seinem Hirn hat, wird er die Stadt übergeben.«
»Nein«, erwiderte Madelin heftig. »Das darf er nicht.«
»Warum nicht?«, fragte er erstaunt.
»Hast du die Nachrichten aus Buda nicht gehört? Dort hat der Sultan freien Abzug versprochen - nur leider hat sich sein Heer nicht an das Versprechen gehalten.« Lucas wurde blass. »Sie haben sie alle niedergemacht. Wie Schlachtvieh.«
»Hab ich auch gehört«, grollte Walther der Landsknecht, der in seinem grünen geschlitzten Wams danebenstand.
Lucas wollte etwas erwidern, doch Madelin war bereits hinüber zum Südfenster geschlüpft. Von hier oben sah man, dass die schwarzen Trümmer der Vorstädte, die sie gestern
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