Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Schiffbrüchigen des »Jonathan«

Die Schiffbrüchigen des »Jonathan«

Titel: Die Schiffbrüchigen des »Jonathan« Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jules Verne
Vom Netzwerk:
Eigentümlichkeit war dem Kawdjer aufgefallen. In einem lichten Moment, wenn er auch nur die Dauer eines Augenblickes hatte, war ihm das Bewußtsein seines Genies, das mit ihm sterben mußte, eingefallen; vielleicht dachte er auch an den schlechten Gebrauch, den er davon gemacht hatte. Kurz vor dem Sterben wollte er noch von dem einzigen Dinge Abschied nehmen, das er geliebt hatte, von seiner Geige. Tastend hatte er sie gesucht, um sie im großen Moment des Scheidens an sich zu drücken, und nun ruhte das wundervolle Instrument auf seinem Herzen, die erkalteten Finger hatten es losgelassen.
    Der Kawdjer nahm die Geige, deren Saiten so herrliche Weisen entströmt waren und die jetzt herrenlos geworden war; als er nach Neudorf zurückkehrte, trat er in Hartlepools Haus ein, das dieser mit den beiden Schiffsjungen bewohnte.
    »Sand!«… rief er, als er die Tür öffnete.
    Das Kind lief auf ihn zu.
    »Ich habe dir eine Geige versprochen, mein Junge, sagte der Kawdjer, hier ist sie!«
    Sand, ganz blaß vor Überraschung und Freude, nahm das Instrument in seine zitternden Hände.
    »Und diese Geige versteht sich auf Musik, fügte der Kawdjer hinzu Es war Fritz Groß’ Eigentum.
    – So will… stammelte Sand, Herr Groß –… mir… seine…
    – Er ist tot, sagte der Kawdjer.
    – Ein Trunkenbold weniger!« meinte Hartlepool kalt.
    Das war die Nachrede des Künstlers Fritz Groß.
    Einige Tage später starb Lazare Ceroni, dieser Todesfall berührte den Kawdjer tiefer. Jetzt, wo der Vater Graziellas nicht mehr unter den Lebenden weilte, stand alles günstig für die Erfüllung von Halgs Zukunftsträumen. Tullia hatte in ihrer Unkenntnis den Kawdjer zu spät zu Hilfe gerufen, so hatte sich die Krankheit ruhig entwickeln können und Tullia war nicht mehr beunruhigt als immer. Die Gewißheit, daß derjenige, dem sie ihr Leben zum Opfer gebracht hatte, unwiderruflich für sie verloren war, traf sie wie ein Donnerschlag.
    Wenn der Kawdjer früher gerufen worden wäre, wären seine Hilfsmittel auch wirkungslos geblieben. Die Krankheit Ceronis war die natürliche Folge seiner jahrelangen Unmäßigkeit – jetzt hatte ihn die galoppierende Schwindsucht in acht Tagen dahingerafft.
    Als alles zu Ende, der Tote der Erde übergeben war, verließ der Kawdjer die unglückliche Tullia keineswegs. Sie war so entkräftet, daß sie auch am Rande des Grabes angelangt schien. Trotzdem sie jahrelang Schmach und Schmerzen erduldet hatte, hatte sie doch den Mann geliebt, der sie jetzt allein zurückließ. Die Spannkraft, die sie bis jetzt aufrecht gehalten hatte, hatte sie verlassen, sie brach zusammen.
    Der Kawdjer nahm die arme Frau zu Graziella nach Neudorf hinüber. Wenn es ein Mittel gab, das verzweifelte Herz zu heilen, so konnte nur die wiedererwachende Mutterliebe dies Wunder vollführen.
    Kraftlos, halb ohnmächtig ließ Tullia alles mit sich geschehen und verließ, mit ihren wenigen Habseligkeiten beladen, gehorsam das Haus.
    Wie hätte sie in diesem Zustand der Niedergeschlagenheit Sirk bemerken können, dem sie begegnete, als sie die Verbindungsbrücke betrat?
    Auch der Kawdjer sah ihn nicht. Unbewußt dieser Begegnung, gingen beide schweigend vorwärts. Aber Sirk hatte sie gesehen! Er war stehen geblieben, das Gesicht verzerrt und bleich vor sprachloser Wut. Lazare Ceroni war tot, Graziella hatte sich nach Neudorf geflüchtet, Tullia begab sich auch dorthin, jetzt war alles für ihn verloren, das bedeutete den Zusammenbruch langgehegter Lieblingspläne! Lange folgte er mit den Blicken diesem Manne und dieser Frau, die sich langsam von ihm entfernten. Hätte der Kawdjer sich umgewandt und den haßerfüllten Blick gesehen, der auf ihn geheftet war, vielleicht hätte ihn trotz seiner gewohnten Unerschrockenheit ein Gefühl der Furcht beschlichen.

Zehntes Kapitel.
Blut.
    Der Zug derjenigen, welche sich nach Liberia flüchteten, war endlos. Während des ganzen Winters erschienen immer neue Flüchtlinge. Die Insel Hoste schien ein unerschöpfliches Reservoir zu sein, welches mehr Elende herausgab, als es seinerzeit empfangen hatte. Im Anfange des Monates Juli erreichte die Strömung ihren Höhepunkt, um endlich am 29. September zu versiegen.
    An diesem Tage sah man nur noch einen Emigranten die Höhen herabsteigen und sich mühsam bis zum Lagerplatz schleppen. Er war halbnackt, fast bis zum Skelett abgemagert, in einem beklagenswerten Zustand. Als er bei den ersten Häusern anlangte, wurde er ohnmächtig. Man war dergleichen

Weitere Kostenlose Bücher