Die Schiffbrüchigen des »Jonathan«
Fenster der ersten Stockwerke. In den niederen Häusern wurde ein Loch im Dache angebracht, das als Ausgang diente. Das öffentliche Leben stand natürlich still und die gesellschaftlichen Verbindungen waren auf ein Minimum beschränkt, das zum Lebensunterhalt der einzelnen unbedingt notwendig war.
Diese strenge Klausur hatte natürlich üble Folgen für den Gesundheitszustand. Wieder brachen einige epidemische Krankheiten aus und der Kawdjer mußte dem einzigen Arzte auf der Insel, welcher nicht mehr genügte, zu Hilfe kommen.
Zum Glück für seine Seelenruhe brauchte er jetzt weder für Sand noch für Dick ängstlich besorgt zu sein. Von den beiden war Sand der erste, welcher seiner Heilung zusteuerte. Schon zehn Tage nach dem Vorfall, dem er zum Opfer gefallen war, konnte ihn der Kawdjer außer Gefahr erklären und mit Bestimmtheit sagen, daß keine Amputation zu befürchten stand. Während der folgenden Tage machte die Vernarbung rasche Fortschritte, mit jener Schnelligkeit, welche das Vorrecht der jungen Gewebe ist. Nach zwei Monaten durfte Sand das Bett verlassen.
Das Bett verlassen?… Der Ausdruck ist nicht glücklich gewählt. Sand kann nicht, wird niemals sein Bett verlassen, noch sich jemals ohne fremde Hilfe bewegen können. Seine abgestorbenen Beine konnten nie wieder den Körper tragen, der für immer zur Unbeweglichkeit verdammt war.
Den kleinen Knaben schien dieser Umstand nicht übermäßig zu betrüben. Das erste Wort, als er zum Bewußtsein erwachte, war eine Frage nach Dicks Ergehen, für den er sich so heldenmütig geopfert hatte. Er dachte nicht daran, sich zu beklagen. Ein leises Lächeln erhellte sein bleiches Gesichtchen, als man ihm versichert hatte, daß Dick heil und gesund sei; aber das genügte ihm bald nicht mehr; als ihm die Kräfte zurückkamen, verlangte er mit eigensinniger Beharrlichkeit nach seinem Freunde.
Lange konnte man seinen Wunsch nicht erfüllen. Länger als einen Monat lag Dick im Delirium. Seine Stirne glühte, rauchte fast, trotz des Eises, das der Kawdjer jetzt zur Verfügung hatte. Als dann diese Sorgenzeit vorbei war, fühlte sich der Kranke so schwach, daß sein Leben wieder gefährdet schien und nur an einem dünnen Faden hing.
Aber von diesem Tage an machte die Rekonvaleszenz auch bei ihm rasche Fortschritte. Die beste Arznei war für ihn die Kunde, daß Sand gerettet worden war. Bei dieser Freudenbotschaft verklärte sich Dicks Gesicht mit einem fast himmlischen Glanze und er schlief diese Nacht – die erste seit anger Zeit – einen ruhigen, gefunden Schlaf.
Am nächsten Morgen durfte er mit Sand sprechen, welcher nun auch überzeugt war, daß man ihn nicht betrogen hatte, und von aller Sorge befreit war. Sein persönliches Unglück schien ihn nicht weiter zu berühren. Jetzt, da er über das Schicksal Dicks beruhigt war, verlangte er nach seiner Geige und als er das geliebte Instrument in den Armen hielt, war er ganz beglückt.
Einige Tage später mußte den Bitten der beiden Kinder nachgegeben werden; man ließ sie ein Zimmer teilen. Jetzt vergingen die Stunden mit der Schnelligkeit eines Traumes. Ihre kleinen Betten waren nebeneinander gestellt, Dick las, während sein Freund die Geige spielte, und dann sahen sie sich wieder an, wenn sie ausruhen wollten. Sie fühlten sich vollkommen glücklich.
Es war ein trüber Tag, als Sand zum ersten Male das Bett verließ. Der Anblick seines verstümmelten Freundes versenkte Dick, welcher schon seit einer Woche herumging, in ein Meer von Traurigkeit. Der Eindruck, den er davontrug, war ebenso niederdrückend als dauernd. Als ob ihn ein Zauberstab berührt hätte, war er mit einem Male verwandelt, ernster, überlegender, weniger keck und streitlustig.
Man war im Anfang des Monates Mai; das war die Zeit, als der Schnee die Bewohner von Liberia in ihre Häuser blockierte. Einen Monat später hatte man die kälteste Zeit dieses kalten Winters zu ertragen, vor dem Frühling war kein Tauwetter mehr zu erhoffen.
Der Kawdjer war bemüht, die entnervenden Folgen dieser langen Einsperrung zu bekämpfen.
Er organisierte Spiele im Freien. Durch eine Ausgrabung im Ufer des Flusses – eine Arbeit, die viele Arme in Bewegung gesetzt hatte – hatte man dem unter dem Eise befindlichen Wasser einen Abfluß verschafft; es ergoß sich über den Sumpf und so war ein Platz zum Schlittschuhlaufen geschaffen, der nicht herrlicher erdacht werden konnte. Die Anhänger dieses in Amerika so beliebten Sports konnten sich dem
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