Die Schiffbrüchigen des »Jonathan«
Menschen, einen Fluchtversuch und die Lebensgefahr zweier Kinder zur Folge gehabt hatte, konnte er diesmal unmöglich totgeschwiegen werden. Auch wußten schon zu viele Personen darum, als daß das Stillschweigen bewahrt werden konnte. Also mußte gehandelt werden. Aber wie?
Die Handlungsweise dieser Menschen wies keinen gemeinsamen Zug mit der des Kawdjer auf, aber sie waren von den gleichen Prinzipien ausgegangen. Diese Leute hatten, wie er selbst, großen Abscheu vor jeder Einschränkung ihrer Freiheit, vor jedem Zwang und wollten sich nicht fügen. Die Verschiedenheit des Temperamentes hatte das übrige getan. Sie wollten die Tyrannei vernichten, während er sich damit zufrieden gegeben hatte, sie zu fliehen. Ihr Freiheitsbedürfnis entsprang derselben Quelle, wenn es sich auch verschieden äußerte, und diese Männer waren schließlich nur Empörer, wie er selbst auch ein Empörer gewesen war. Er erkannte sich in mancher Hinsicht in ihnen wieder; hatte er jetzt, da er ihnen als der Stärkere überlegen war, ein Recht, sie zu bestrafen?
Kaum hatte sich der Kawdjer erhoben, so begab er sich ins Gefängnis, wo Kennedy, auf eine Bank hingestreckt, die Nacht verbracht hatte. Er stand beim Eintritt des Gouverneurs auf; nicht genug mit diesem Beweise seiner Achtung, er nahm auch die Mütze ab. Dazu mußte der ehemalige Matrose beide Hände gleichzeitig aufheben, weil sie durch eine kurze, starke Kette gefesselt waren. Dann wartete er, mit gesenkten Blicken, auf das Kommende.
Kennedy sah so wie ein in der Falle gefangenes Tier aus. Um ihn herum war Luft, Raum, Freiheit… Jetzt hatte er kein Anrecht mehr auf diese natürlichen Güter der Menschheit; er hatte andere Menschen darum berauben wollen und jetzt beraubten ihn diese anderen Menschen.
Sein Anblick war dem Kawdjer unerträglich.
»Hartlepool!« rief er, zum Posten gewendet.
Hartlepool erschien.
»Nehmen Sie ihm die Kette ab! sagte er und deutete auf die gefesselten Hände des Gefangenen.
– Aber, Herr… begann Hartlepool.
– Ich bitte!… unterbrach ihn der Kawdjer in einem Ton, der keine Widerrede duldete.
Für die anderen wurden Schlittenfahrten in Szene gesetzt. (S. 366.)
Als Kennedy frei war, redete er ihn an:
»Du hast mich töten wollen. Warum?« fragte er.
Kennedy, ohne die Augen aufzuschlagen, zuckte die Achseln, wandte sich linkisch nach allen Seiten, drehte seine Mütze verlegen zwischen den Fingern und wollte durch diese Gebärdensprache andeuten, daß er es nicht wisse.
Der Kawdjer betrachtete ihn einen Augenblick schweigend, dann öffnete er die ins Polizeizimmer führende Türe und sagte:
»Du kannst gehen!«
Kennedy sah ihn ungläubig an.
»Du kannst gehen!« wiederholte er ruhig.
Ohne sich nochmals bitten zu lassen, eilte der Matrose mit gekrümmtem Rücken hinaus. Hinter ihm schloß der Kawdjer die Türe und begab sich zu den kleinen Kranken, während er Hartlepool seinem Erstaunen überließ.
Der Zustand Sands war der gleiche, aber mit Dick stand es bedeutend schlechter. Er lag im schweren Delirium, warf sich aufgeregt auf seinem Lager hin und her und sprach wirres Zeug. Jeder Zweifel war ausgeschlossen, das Kind hatte eine Gehirnhautentzündung in so bedenklichem Grade, daß ein letaler Ausgang nicht ausgeschlossen war. Die gewöhnliche Behandlung konnte hier nicht angewendet werden. Wo hätte man Eis hergenommen, um seine glühende Stirne zu kühlen? So weit war der Fortschritt auf der Insel Hoste noch nicht gediehen, daß außer dem Winterhalbjahr Eis zu haben gewesen wäre.
Dieses Eis, dessen Mangel der Kawdjer sehr beklagte, sollte die Natur in Bälde in unverhofften Mengen liefern. Der folgende Winter zeichnete sich durch außerordentliche Strenge aus und kam sehr früh ins Land. In den ersten Apriltagen begann er mit heftigen Stürmen, die während eines Monates ununterbrochen wüteten. Diesen Stürmen folgte unmittelbar ein plötzliches Sinken der Temperatur, das mit so ausgiebigen Schneefällen verbunden war, wie sie der Kawdjer noch niemals in diesen Breiten erlebt hatte, seitdem er sein Heim im Magalhães-Archipel aufgeschlagen hatte. So weit es in der Macht der Menschen lag, kämpften sie tapfer gegen den Schnee an, aber im Juni fielen die weißen Flocken in so dichten Ballen, daß sie sich für besiegt erklärten. Trotz aller Anstrengungen erreichte die Schneedecke eine Höhe von mehr als drei Metern und Liberia war wie mit einem weißen Leichentuch bedeckt. Anstatt der Türen bediente man sich der
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