Die Schiffbrüchigen des »Jonathan«
aller Zeiten und Länder unterschied? An seiner Stelle würde jeder in gleicher Weise vorgegangen sein und sein Nachfolger im Herrscheramt, ob es Chile oder jemand anderer war, konnte auch keine anderen Mittel in Anwendung bringen als diejenigen, zu den ihm die Fatalität des Schicksals gezwungen hatte.
Weshalb dann sich wehren?
Und – er war so müde! Die Hekatombe, die er befohlen, dieses entsetzliche Blutbad, diese grausame Schlächterei – das waren Erinnerungen, die ihn Tag und Nacht verfolgten und quälten. Jeden Tag beugte sich seine hohe Gestalt mehr unter der Last seiner Sorgen und Erinnerungen, seine Augen verloren ihren Glanz und seine Gedanken büßten ihre gewohnte Klarheit ein. Die Kraft verließ diesen athletischen Körper und diese Heldenseele. Er konnte nicht weiter, er hatte genug…
In dieser Sackgasse endete also sein Leben. Mit ganz irrem Blick schaute er auf seinen langen Leidensweg zurück. Er war mit zerstörten Illusionen bedeckt, den Resten jener Ideen, die die Grundlage seiner moralischen Kraft gebildet und denen er alles zum Opfer gebracht hatte. Hinter ihm gähnte das – Nichts. Seine Seele war zerrissen: sie glich einer mit Ruinen bedeckten Wüstenei.
Was tun?.. Sterben?… Ja, das wäre ein logisches Ende gewesen, und doch konnte er sich dazu nicht entschließen. Er fürchtete den Tod nicht. Diesem erleuchteten Verstande erschien er als natürlicher Abschluß des Daseins, als Krönung des Lebens, dem nicht mehr Bedeutung zuzuweisen und der ebensowenig zu fürchten war als die Geburt. Aber jede Fiber in ihm sträubte sich gegen einen Akt, der seinem Leben willkürlich Grenzen gezogen hätte. Ebensowenig wie ein gewissenhafter Arbeiter eine begonnene Arbeit unfertig im Stiche lassen wird, wollte dieser mächtige Geist bis zum Ende ausharren; das war ein Gebot der Notwendigkeit für dieses starke Herz, das voll Selbstverleugnung und Aufopferung für den nächsten überfloß, und es schien ihm nicht genug getan zu haben, wenn er nicht alles vollendete…
Wie ließen sich diese Widersprüche einigen?
Endlich schien sich der Kaw-djer der Gegenwart des chilenischen Offiziers zu erinnern, welcher ungeduldig wartete…
»Mein Herr, sagte er, Sie haben mir früher mit der Anwendung von Gewalt gedroht; haben Sie sich auch über unsere Stärke Rechenschaft abgelegt?
– Über Ihre Stärke?… wiederholte der Chilene erstaunt.
– Urteilen Sie selbst!« - sagte der Kaw-djer und lud den Offizier durch eine Geste ein, ans Fenster zu treten.
Vor ihren Blicken lag der Platz. Dem Regierungspalaste gegenüber waren die chilenischen Soldaten in strammen Reihen unter dem Befehle ihrer Anführer aufgestellt. Und doch hätte ihre Aufstellung zur Kritik Anlaß geben können, denn fünfhundert Hostelianer zernierten sie mit schußbereitem Gewehr.
»Die hostelische Armee zählt heute fünfhundert Männer, sagte der Kaw-djer kalt, morgen wird sie zu tausend und übermorgen zu fünfzehnhundert angewachsen sein.«
Der chilenische Offizier war leichenfahl geworden. In welches Wespennest war er geraten! Seine Mission schien sehr verwickelt zu werden, aber er versuchte gute Miene zum bösen Spiel zu machen.
»Wir haben das Kriegsschiff… bemerkte er in wenig überzeugungsvollem Ton.
– Das fürchten wir nicht, sagte der Kaw-djer, und auch seine Kanonen setzen uns nicht in Schrecken, denn wir sind auch mit diesen Waffen sehr gut versorgt.
– Aber Chile… begann der Offizier nochmals stotternd, er wollte sich nicht als besiegt erklären.
– Ja, unterbrach ihn der Kaw-djer, Chile hat noch mehr Soldaten und andere Schiffe, wollen Sie sagen. Wir wissen es. Aber es würde schlechte Geschäfte machen, wenn es dieselben gegen uns ins Feld führen wollte. Die Insel Hoste hat jetzt sechstausend Einwohner, die werden nicht so leicht unterworfen. Dabei haben wir noch nicht die einhundertundfünfzig Soldaten in Rechnung gezogen, die uns als Geiseln unschätzbar sein würden!«
Der Offizier schwieg und der Kaw-djer sagte sehr ernst:
»Wissen Sie überhaupt, wer ich bin?«
Der Chilene betrachtete seinen Gegner mit staunenden und erschreckten Blicken. Wahrscheinlich las er in dessen Augen die Antwort auf die gestellte Frage, denn seine Verlegenheit wuchs.
»Was wollen Sie mit dieser Frage sagen? stotterte er. Es ist jetzt zwölf oder dreizehn Jahre her, da kam der »Ribardo« von der Insel Hoste zurück, dessen Kommandant Sie zu erkennen glaubte – so lauteten die Gerüchte. Aber sie müssen auf Irrtum
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