Die Schiffbrüchigen des »Jonathan«
stammte aus Piemont. Vor siebzehn Jahren hatten der damals fünfundzwanzigjährige Lazare und die um sechs Jahre jüngere Tullia beschlossen, sich das Elend des Daseins gegenseitig tragen zu helfen. Außer sich selbst, besaß keines der beiden auch nur das Geringste; aber sie hatten sich lieb und in ehrlicher, treuer Liebe liegt eine unschätzbare Kraft, die die Schwierigkeiten des Lebens ertragen, manchmal sogar besiegen hilft.
Unglücklicherweise traf dieser Fall bei dem Ehepaare Ceroni nicht ein. Der Mann war in schlechte Gesellschaft geraten und hatte sich dem Alkoholgenusse ergeben. Es ist ja nicht so leicht, der Versuchung zu widerstehen! Man bedenke, die Unzahl von Schenken, die unter dem Schutze der »Gewerbefreiheit« berechtigt sind, dieses gefährliche Gift anzupreisen und damit die unglücklichen »Enterbten des Schicksals« anzulocken. In kurzer Zeit war Ceroni der ständigen Trunkenheit verfallen, die sich nach und nach in ihren aufeinanderfolgenden Fortschrittsstadien als Schwermut, Zorn, Grausamkeit und in Wutanfällen äußerte.
Fast täglich gab es fürchterliche Szenen zwischen den Ehegatten, die die ganze Nachbarschaft in Aufregung versetzten. Und Tullia ging den schweren Leidensweg, den vor ihr schon viele Unglückliche ergebungsvoll gewandert waren, den nach ihr noch viele betreten werden; von ihrem Manne verhöhnt, beschimpft, geschlagen, leerte diese Märtyrin den Becher des Leidens bis zur Neige.
Gewiß hätte sie diesen Mann, der kaum noch etwas Menschliches an sich trug und sich selbst ganz zum vernunftlosen Tier erniedrigt hatte, verlassen können, vielleicht sogar sollen. Aber sie tat es nicht! Denn Tullia gehörte zu jenen starken Frauen, die vor keiner Aufgabe zurückschrecken, den einmal betretenen Pfad der Pflicht nicht feige verlassen und das langsame Martyrium der Fahnenflucht vorziehen. Vom Standpunkt des materiellen Interesses, des greifbaren Vorteiles verdienen solche Naturen unbedingt das Epitheton »absonderlich«, aber sie erzwingen sich auch Bewunderung; sie sind die praktischen Beispiele, an welchen wir die Schönheit des Opfermutes erkennen und lernen können, bis zu welcher moralischen Höhe sich die menschliche Seele in Selbstverleugnung und wahrer Pflichterfassung aufschwingen kann.
In dieser Hölle wuchs Graziella auf. Schon im zartesten Kindesalter sah sie ihren Vater betrunken, ihre Mutter mißhandelt, wohnte den täglichen Streitszenen bei und mußte aus dem Munde Lazares die gemeinsten Schimpfworte anhören. In einem Alter, wo die kleinen Mädchen nur ans Spiel denken sollten, wurde sie in gewaltsamen Kontakt mit der rauhen Wirklichkeit des Lebens gebracht und mitgerissen in das unausgesetzte, herbe Ringen eines jeden Augenblickes.
Mit sechzehn Jahren war Graziella ein sehr ernstes Mädchen, welches die bitteren Erfahrungen frühester Jugend und ein fester, in der Schule des Leidens geformter Wille gegen alle Bitterkeiten des an Enttäuschungen aller Art so reichen Erdenlebens gefeit hatten. Und ein Trost konnte ihr nicht geraubt werden: was immer die Zukunft des Unheilvollen und Grausamen für sie bereithalten möge, niemals würde es an die Schrecken der Vergangenheit heranreichen!
Graziella war von schlanker, schmächtiger Gestalt und hatte dunkle Haare. Das eigentlich Schöne an ihr, der Reiz ihrer Persönlichkeit, lag in ihren Augen und in dem lebhaften, verständigen Gesichtsausdruck.
Die Lebensweise Lazare Ceronis zog ihre natürlichen Konsequenzen nach sich; bald herrschte Mangel im Hause. War es denn anders möglich? Trinken kostet Geld und während man trinkt, verdient man nichts. Eigentlich hat man da von einem doppelten Verluste zu sprechen. Schrittweise kam man dem Unglücke näher; aus dem Mangel in die Armut, aus dieser ins Elend. Nun wanderte die Familie aus und hoffte unter einem fremden Himmel sorgenfreier, glücklicher leben zu können. So war Ceroni – immer mit kürzeren oder längeren Unterbrechungen – mit Weib und Kind durch Frankreich gezogen, hatte den Ozean durchquert und war in Amerika gelandet, um schließlich in San Francisco zusammenzubrechen. Die Reise hatte – fünfzehn Jahre gedauert. In San Francisco packte ihn die Verzweiflung; das Elend hatte einen solchen Höhepunkt erreicht, daß ihm endlich die Augen aufgingen und er sich seines Zerstörungswerkes bewußt wurde. Jetzt hörte er auf die Vorstellungen und Bitten seiner Frau – zum ersten Male in dieser Reihe von Jahren – und versprach, sich zu bessern, ein anderer
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