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Die Schiffbrüchigen des »Jonathan«

Die Schiffbrüchigen des »Jonathan«

Titel: Die Schiffbrüchigen des »Jonathan« Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jules Verne
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übrigen luxuriösen Schmuckes. Auf weite Strecken breiteten sich die herrlichsten Waldungen aus, Riesenbäume gruben ihre mächtigen Wurzeln tief in den weichen aber widerstandsfähigen Boden, aus dem kräftiges Unterholz aufsproßte, das mit zweigtragenden, samtigen Moosarten gemeinsam gedieh. Unter dem Schutze dieses grünen Gewölbes ergötzte sich eine muntere Vogelwelt, mindestens sechs Kolibriarten – die einen nicht größer als Kieselsteine, die anderen wie Fasanen – Drosseln, Amseln, und zahlreiche Vertreter der Wasservögel: Gänse, Enten, Seeraben und Möven, während der Nandu, das Guanako und das Vikunja sich in den Prärien ihres Daseins freuten.
    Die Südküste dieser Bucht – der Süden entspricht auf dieser Seite des Äquators der Nordküste der anderen Hemisphäre – war mindestens zwei Meilen von der Stelle entfernt, wo der »Jonathan« gestrandet war. Hier mündete ein zwischen schattigen Ufern dahintosender Wasserlauf, der sich durch zahlreiche Nebenflüsse verstärkt hatte und in einer kleinen Bai ins Meer ergoß. An seinen Ufern, die ungefähr hundert Fuß voneinander entfernt sein mochten, wäre es leicht gewesen, den Anfang zu einer ständigen Niederlassung zu gründen. Die kleine Bucht, die eine windgeschützte Lage einnahm, konnte einen passenden Ankerplatz abgeben.
    Es herrschte schon vollständige Dunkelheit, als man den Lagerplatz erreichte. Der Kawdjer, Harry Rhodes, Halg und Hartlepool hatten sich eben von ihren Gefährten empfohlen, als durch das Schweigen der Nacht die Töne einer Geige an ihr Ohr drangen.
    »Eine Geige, flüsterte der Kawdjer Harry Rhodes zu; vielleicht spielt dieser Fritz Groß, von dem Sie mir erzählt haben?
    – Dann ist er betrunken, antwortete Harry Rhodes mit voller Bestimmtheit.«
    Er täuschte sich nicht. Fritz Groß befand sich wirklich im Stadium vollständiger Trunkenheit.
    Als man ihn wenige Minuten später bemerkte, da bestätigte sein starrer Blick, sein gerötetes Gesicht, sein geifernder Mund leicht seinen Zustand. Er war unfähig, sich aufrecht zu halten und lehnte an einem Felsen, um sein Gleichgewicht zu bewahren. Aber der Alkohol hatte seinen Genius entzündet. Der Bogen flog über die Saiten, von denen sich die herrlichsten Melodien loslösten. Hunderte der Auswanderer umdrängten ihn. In diesem Augenblicke vergaßen diese Unglücklichen alles; die Ungerechtigkeit des Schicksals, ihr immerwährendes Elend, ihre augenblicklich so traurige Lage, die Zukunft, die allem Anschein nach sich kaum anders als die Vergangenheit gestalten dürfte, und ließen sich auf Schwingen der Musik dahintragen in eine Welt der Träume.
    »Die Kunst ist so notwendig wie das Brot, sagte Harry Rhodes zum Kawdjer, indem er ihm Fritz Groß und seinen atemlos lauschenden Zuhörerkreis zeigte. Welchen Platz hätte dieser Mann im System Beauvals einzunehmen?
    – Lassen wir Beauval in Frieden, antwortete der Kawdjer unmutig.
    – So viele arme Wesen leben in Luftschlössern!« sagte Harry Rhodes.
    Sie nahmen ihren Weg wieder auf.
    »Ich bin sehr beunruhigt, meinte Harry Rhodes nach einigen in Stillschweigen zurückgelegten Schritten; wie war es Fritz Groß möglich, sich den Alkohol zu verschaffen?«
    Auch andere außer Fritz Groß hatten sich den berauschenden Trank verschafft. Die Ausflügler mußten plötzlich vor einem ausgestreckt über dem Weg liegenden Körper haltmachen.
     

    Tullia weinte leise vor sich hin… (S. 95.)
     
    »Das ist Kennedy, sagte Hartlepool, indem er sich über den Schläfer beugte. Ein Tunichtgut, übrigens der einzige der Schiffsmannschaft, der nicht des Strickes wert ist, um gehängt zu werden.«
    Kennedy war voll betrunken. Und viele andere der Emigranten fand man in demselben traurigen Zustand auf, bis zur Bewußtlosigkeit trunken auf der Erde hingestreckt.
    »Beim Himmel! sagte Harry Rhodes, man hat die Abwesenheit des Gebieters benützt, um die Vorräte zu plündern!
    – Wer ist hier Gebieter, fragte der Kawdjer in barschem Tone.
    – Sie, natürlich!
    – Ich habe nicht mehr zu befehlen als jeder andere, erwiderte der Kawdjer ungeduldig.
    – Möglich, gab Harry Rhodes zu; das hindert aber nicht, daß jedermann Sie dafür hält.«
    Der Kawdjer wollte eben etwas erwidern, als aus einem der nächstgelegenen Zelte der halberstickte Hilferuf einer Frau an sein Ohr drang.
Fußnoten
    1 San Francisco.
Zweites Kapitel.
Das erste Gebot.
    Die Familie Ceroni, aus dem Vater Lazare, der Mutter Tullia, und einer Tochter Graziella, bestehend,

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