Die Schiffbrüchigen des »Jonathan«
vorgefallen war. Jetzt hatte sie nur einen Gedanken, ihren Mann zu entschuldigen, dessen Brutalität sich auf so abscheuliche Weise vor fremden Blicken geoffenbart hatte.
»Ich danke Ihnen, meine Herren, sagte sie, indem sie aufzustehen versuchte Es war nichts… Ich bin wieder ganz wohl… Wie töricht war ich, so zu erschrecken!
– Es war wohl genügende Ursache dazu vorhanden, rief der Kawdjer voll Entrüstung.
– O nein, erwiderte lebhaft Tullia. Lazare ist gewiß nicht böse… Es war nur ein Scherz.
– Beliebt es ihm öfter in dieser Weise zu scherzen? fragte der Kawdjer.
– Nie, mein Herr! Niemals! behauptete Tullia. Lazare ist ein guter, braver Mann; ich könnte mir keinen besseren denken!
– Das ist nicht wahr!« unterbrach sie eine klare, feste Stimme.
Der Kawdjer und seine Gefährten wandten sich um und erblickten jetzt erst Graziella, welche sie in dem in dem Zelte herrschenden Halbdunkel, das nur durch das fahle, gelbe Licht einer Laterne spärlich erhellt wurde, früher nicht bemerkt hatten.
»Wer sind Sie, mein Kind? fragte der Kawdjer.
– Seine Tochter, antwortete Graziella, indem sie auf den Trunkenen wies, welcher in seinem Winkel laut schnarchte, ohne sich durch den Lärm im Zelte im geringsten stören zu lassen. Ich schäme mich dessen, aber ich muß es sagen, damit man meiner armen Mutter zu Hilfe komme.
– Graziella! stöhnte Tullia und hob beschwörend die Hände auf.
– Alles werde ich sagen, sprach das junge Mädchen mit voller Bestimmtheit. Das erste Mal im Leben begegnen wir Beschützern; ich werde sie nicht fortgehen lassen, ohne ihr Mitleid angerufen zu haben!
– Sprechen Sie nur, mein Kind, sagte der Kawdjer bewegt, und zählen Sie auf unseren Schutz; wir werden Ihnen helfen und Sie verteidigen.«
Und Graziella, durch den gütigen Ton in seinen Worten ermutigt, erzählte alles. Mit vor Erregung zitternder Stimme schilderte sie das Leben ihrer Mutter, ohne das Geringste zu verbergen; sie sprach von der opferwilligen Zärtlichkeit und Pflichttreue Tullias und wie man ihre Aufopferung vergolten hatte; sie verschwieg auch nicht die häßlichen Auftritte, die sich leider so oft vor ihren Augen abgespielt hatten, wie ihr Vater seine Frau an den Haaren geschleift, sie geschlagen, ihr Fußtritte versetzt hatte. Sie berührte jene Tage des schrecklichsten Elendes, wo sie am Nötigsten darben mußten und den drückendsten Mangel litten, ohne Kleidung, ohne Feuer, ohne Brot, oft ohne ein schützendes Dach, und sie pries die Langmut ihrer gequälten Mutter, welche all diese furchtbaren Prüfungen mit heroischer Güte und Langmut ohne ein Wort der Klage ertragen hatte.
Tullia weinte leise vor sich hin, während sie der schreckensvollen Erzählung lauschen mußte. Bei jedem Worte ihrer Tochter traten alle erduldeten Leiden aus dem Schatten der Vergangenheit, erwachten zu neuem Leben und marterten aufs neue das arme Dulderherz. Der Wucht dieses Anpralles fühlte sich Tullia nicht mehr gewachsen und es fehlte ihr die Kraft, den grausamen Gatten noch länger zu entschuldigen und zu beschützen.
»Sie haben wohl getan, uns alles zu erzählen, mein Kind, sagte der Kawdjer mit vor Rührung zitternder Stimme, als Graziella ihren traurigen Bericht beendet hatte. Seien Sie versichert, daß wir Sie nicht verlassen und Ihrer Mutter helfen werden. Für jetzt ist ihr wohl vollständige Ruhe das Notwendigste. Sie soll trachten, einen erquickenden Schlaf zu tun und die Hoffnung auf eine bessere Zukunft nicht aufgeben.«
Als der Kawdjer, Harry Rhodes und Hartlepool das Zelt verlassen hatten, blickten sie sich einen Augenblick schweigend an. War es denn möglich, daß ein Mensch einen solchen Grad von Bosheit und Schlechtigkeit erreichen konnte! Ein langer, erlösender Atemzug hob ihre sorgenbelastete Brust, dann schritten sie weiter. Jetzt erst fiel es dem Kawdjer auf, daß die kleine Truppe ein Glied weniger zählte. Halg war nicht mehr mit ihnen.
Nachdem die Vermutung nahe lag, daß der Jüngling im Zelte der Familie Ceroni zurückgeblieben war, kehrte der Kawdjer dahin zurück und trat nochmals hinein. Halg war wirklich noch anwesend, aber so in Gedanken vertieft, daß er weder das Weggehen seiner Gefährten noch die Rückkehr des Kawdjer bemerkt hatte. Er lehnte an der Zeltwand und war in Betrachtung Graziellas versunken; seine Züge drückten gar beredt gleichzeitig inniges Mitleid und unverhohlene Bewunderung aus. Graziella stand mit gesenkten Blicken wenige Schritte von ihm und schien
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