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Die Schiffbrüchigen des »Jonathan«

Die Schiffbrüchigen des »Jonathan«

Titel: Die Schiffbrüchigen des »Jonathan« Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jules Verne
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Mensch zu werden.
    Und er hielt Wort. Schon nach sechs Monaten war infolge seines rastlosen Fleißes und seiner streng beobachteten Enthaltsamkeit vom Alkohol ein gewisser Wohlstand in den Haushalt eingekehrt, außerdem hatte er die für ihn ansehnliche Summe von fünfhundert Franken erspart, welche die »Gesellschaft für Kolonisation« von jedem forderte, der sich als Passagier des »Jonathan« für die Delagoa-Bai einschiffen wollte. Tullia hing süßen Träumen nach über die Möglichkeit künftigen Glückes – als der Schiffbruch des »Jonathan« alle ihre schönen Luftschlösser umwarf.
    Die notwendige Folge des Unglückes war ein allgemeiner Müßiggang und um die ihm endlos scheinenden Stunden der Untätigkeit schneller vergehen zu machen, hatte sich Lazare an andere Emigranten angeschlossen. Dabei hatten ihn natürlich seine Sympathien zu Gesinnungsgenossen geführt. Alle waren einesteils durch die Langeweile mehr oder weniger entnervt, anderseits hatten sie schon lange nicht mehr ihrem Lieblingslaster fröhnen können; nun nahmen sie die erste günstige Gelegenheit wahr, die sich ihnen durch die Entfernung des Kawdjer – den alle, ohne sich über das »Warum« Rechenschaft abzulegen, stillschweigend und einstimmig als Oberhaupt anerkannten – unverhofft darbot. Kaum hatte der Kawdjer mit seinen Gefährten das Lager verlassen, als sich diese wenig vertrauenerweckende Gesellschaft eines der geretteten Rumfässer aneignete und eine regelrechte Orgie in Szene setzte.
    Auch Lazare hatte daran teilgenommen, weil er zu feige war, der Überredungskunst der anderen zu widerstehen und weil das wiedererwachte Laster die guten Vorsätze überstimmte. Erst spät in der Nacht kam er mit wanken den Schritten und zerstörtem Denkvermögen in sein Zelt, wo ihn Frau und Tochter weinend erwarteten.
    Kaum war er eingetreten, so begann das unausbleibliche Gezänke. Unter dem Vorwand, daß das Essen nicht schon bereit auf dem Tische stehe, geriet er in heftigen Zorn; als ihm das Mahl gebracht wurde, ärgerten ihn die traurigen Mienen der Frauen, was einen Schwall gemeiner Fluchworte zur Folge hatte; dies regte ihn immer mehr auf, er schrie und brüllte sinnloses Zeug, seiner selbst nicht mehr mächtig.
    Graziella stand bewegungslos, wie versteinert da und blickte voll Entsetzen dieses abscheuerregende Geschöpf an, welches sie Vater nennen mußte. Sie schämte sich seiner und das Gefühl der Schmach stritt in ihrer Seele mit der Sorge um die Oberhand.
    Tullia aber war ganz vom Schmerze übermannt und weinte herzzerbrechend. Wieder alle Hoffnungen vernichtet; sie sollte wieder die Hölle auf Erden haben!… Und schwere Tränen rollten ihr die vergrämten Wangen herab. Mehr brauchte es nicht, um bei Lazare den Sturm völlig zu entfesseln.
    »Hör’ mit der Heulerei auf!« brüllte er schäumend vor Wut, stürzte sich auf seine Frau und packte sie an der Kehle, während Graziella sich bemühte, die Unglückliche dem todbringenden Griffe zu entreißen.
    Ein fürchterliches, schweigendes Ringen! Dann wurde wieder Lazares dröhnende Stimme laut, welcher mit den gemeinsten Schimpfworten um sich warf – und wieder Stille! Weder Graziella noch ihre Mutter riefen um Hilfe.
    Wenn der Vater seiner Tochter das Dasein zum Martyrium macht, wenn der Gatte seiner Gattin ans Leben geht, so sind dies beschämende, naturwidrige Vorgänge, die das Licht scheuen müssen und die man um jeden Preis vor den Blicken der Welt verstecken muß.
    Aber als der Wüterich einen Augenblick seinen Griff am Halse des armen Opfers lockerte, erpreßte der Schmerz Tullia jenen Klagelaut, den der Kawdjer vernommen hatte. Diese unwillkürliche Schmerzensäußerung trieb die Wut des Rasenden auf den Höhepunkt. Seine Finger krampften sich noch fester um die Kehle der armen Frau.
    Da sauste ein heftiger Faustschlag auf seine Schulter nieder; er mußte seine Beute fahren lassen und rollte in eine Ecke des Zeltes.
    »Was gibt’s?… Wer ist da?… stammelte er.
    – Ruhe!« rief eine befehlende Stimme.
    Der Trunkene ließ sich das nicht zweimal sagen. Nachdem seine Erregung geschwunden war, verfiel er in einen bleiernen Schlaf.
    Der Kawdjer hatte sich über die besinnungslose Frau gebeugt und trachtete, sie aus ihrer Ohnmacht zu erwecken.
    Halg, Rhodes und Hartlepool, welche nach ihm das Zelt betreten hatten, betrachteten die Szene voll Mitleid.
    Endlich schlug Tullia die Augen auf. Als sie sich von fremden Gesichtern umgeben sah, begriff sie sogleich, was

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