Die Schiffe der Kleopatra
Meeresgöttin. Schönheit, Liebe und Fruchtbarkeit sind weitere Charakteristika. Die Verbindung zwischen unseren beiden Tempeln reicht Jahrhunderte zurück bis vor die Zeit der etruskischen Könige. Kommt mit, ich zeige euch die Insignien.« Keineswegs abgeneigt folgten wir ihr. Da der Tempel so klein war, befand sich der größte Teil seines Besitzes in den Außengebäuden, die zumeist größer waren als der Tempel selbst. Wir betraten ein flaches einstöckiges Gebäude mit einem prachtvoll bemalten Portikus, dessen Dach von mehreren schlichten dorischen Säulen getragen wurde. Drinnen stand eine Besuchergruppe bewundernd vor einer mit Netzen bedeckten Wand. Das war nicht gerade das, was ich erwartet hatte. »Sieht aus wie der Lagerschuppen eines Fischers«, bemerkte ich.
»Guck genauer hin«, riet Flavia mir.
Also trat ich näher. Die Netze waren außergewöhnlich fein, fast wie überdimensionierte Spinnenweben. Außerdem glitzerten sie hell in dem Licht, das durch Tür und Fenster des Portikus hereinfiel. Dann erkannte ich, dass sie nicht aus Garn, sondern aus einer feinen goldenen Kette geknüpft waren. »Zum Höhepunkt der Aphrodisia werden die Priesterinnen diese Netze tragen, wenn sie zum Meer hinuntergehen und zur spirituellen Erneuerung in den Fluten baden«, erklärte Flavia. »In der alten Legende«, sekundierte Alpheus, »benutzte Hephaestus ein goldenes Netz, um seine Gattin Aphrodite und ihren Liebhaber Ares gemeinsam im Bett zu fangen.« »Auf dem Festland hat Aphrodite die meisten ihrer Attribute als Meeresgöttin verloren«, fuhr Flavia fort. »Vielleicht erinnerst du dich, dass Poseidon persönlich ihr angeboten hat, sie zu heiraten, als er sie in dem goldenen Netz sah. Hier in ihrem ältesten Heiligtum gehörte das Netz ihr und nicht ihrem Mann.«
»Wirst du an den rituellen Feierlichkeiten teilnehmen?« fragte ich sie.
»Nur als Zuschauerin. Eigentlich schade. Ich würde gern im Angesicht von Tausenden von Pilgern im Meer baden. Die römische religiöse Praxis ist dieser Tage so schrecklich spießig.«
»Wie wahr«, pflichtete ich ihr bei. »Hast du schon den Dionysus-Kult in Erwägung gezogen? Er ist in ganz Italien verboten, wird jedoch in der griechischen Welt nach wie vor hoch verehrt.«
»Ich kann den Ritus von Samos nur wärmstens empfehlen«, schaltete Alpheus sich ein. »Er ist uralt, höchst orgiastisch und angeblich die heiligste aller dionysischen Sekten.« »Sergius wäre nie damit einverstanden«, sagt Flavia traurig. »Er ist Bankier, und Samos ist keine besonders wohlhabende Insel. Wahrscheinlich werden wir nie dorthin gehen. Kommt mit, ich zeige euch das Abbild der Göttin. Es ist nicht das, was man erwartet.«
Diese Voraussage erwies sich als ziemlich richtig. Das Innere des winzigen Tempels war düster, Weihrauchschwaden stiegen in anmutigen Spiralen zur Decke auf. Als meine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten, nahm die Göttin im hinteren Teil der Kammer Gestalt an. Sie war in weißem Stein dargestellt, wahrscheinlich Marmor, doch sie ähnelte den polierten lebensechten Skulpturen, die uns so vertraut sind, in kaum einer Hinsicht. Der Stein war grob behauen und porös und erinnerte nur vage an eine menschliche Gestalt, bei der die Arme nicht vom Körper und die Beine nicht voneinander getrennt waren. Eine Einbuchtung in der Mitte deutete die Hüfte an, zwei große, aber undeutliche Schwellungen die Brüste, eine eiförmige Kontur den Kopf. Gesichtszüge waren nicht zu erkennen. Ich betrachtete dieses außergewöhnliche Standbild lange, weil es mich bewegte, wie es den berühmteren, aber konventionelleren Aphrodite-Skulpturen selten gelang, weil sie den Betrachter stets daran erinnerten, dass sie eher Kunstwerke als Objekte der Andacht waren. Dies hingegen schien mir ein Kultobjekt in seiner reinsten Form. Langsam dämmerte mir, was ich sah.
»Die Göttin ist dargestellt, wie sie, noch immer aus Meeresschaum gemacht, aus den Fluten steigt!« sagte ich. »Sie hat ihre vollendete göttliche Gestalt noch nicht gefunden.« »Du bist sehr aufmerksam für einen Römer.«
Es war nicht Flavia, die gesprochen hatte. Die Stimme erinnerte mich an leicht geräucherten Honig. Ich wandte mich um und sah eine etwa fünfzigjährige Frau von königlicher Haltung, deren Schönheit einst mit Helenas vergleichbar gewesen sein musste und die noch immer sehr attraktiv war. Sie hatte schwarzes, in der Mitte schlicht gescheiteltes Haar, und ihre Gesichtszüge waren von der geradlinigen
Weitere Kostenlose Bücher