Die schlafende Stadt
schier überwältigend.
Ganz entspannt ist sie, und dennoch quält sie etwas.
Dann kann er es sehen.
Ihr schönes Gesicht ist entstellt. Blutergüsse und Schwellungen sind dort, wo zärtliche Hände sie streicheln, Küsse sie leidenschaftlich bedecken sollten. Verfärbt sind die lieblichen Wangen, die wundervollen Schläfen.
Darius weint. Es ist ihm, als fühle er die Schmerzen selbst. Und er lacht. Denn er ist glücklich, sie gefunden zu haben. Er streckt die Hand aus und berührt vorsichtig ihre Wange.
Warm und weich fühlt sie sich an. Er streicht ihr durchs Haar und über ihren Hals. Ganz sanft ist er, um nicht die wunden Stellen zu berühren. Er berührt ihre Schultern, spürt, den lebendigen weiblichen Körper unter dem weißen Laken.
Er beugt sich vor und küsst sie sanft auf die Lippen.
Da öffnet sie die Augen und blickt ihn an. Trotz aller Müdigkeit und Geschundenheit strahlen sie.
Wundervolle grüne Augen. Herrlich sind sie anzusehen zu dem schwarzen Haar und dem leicht geöffneten roten Mund.
Die Gestalt saß unmittelbar hinter dem Fußende seines Bettes.
Darius sah sie erst verschwommen, denn er war noch im Halbschlaf und noch ganz versunken in seinen Traum. Dann erst registrierte er, dass er in seiner Schlafkammer war und dass dort etwas war.
Jäh war er plötzlich wach.
Das Wesen war ganz in weiß gekleidet. Es trug eine Art Kutte mit tief ins Gesicht gezogener Kapuze. Es kauerte leicht gebückt und schien ihn verstohlen zu betrachten.
Dann bemerkte es, dass er wach war. Es richtete sich auf und wandte sich ihm zu.
Da, wo sonst das Gesicht wäre, befand sich das nur allzu bekannte schimmernde Visier. Jetzt, wo Darius es näher erkennen konnte, zeigte sich, dass Gesichtszüge in das Metall getrieben waren. Um den Mund zeigte sich ein spöttisches Lächeln, während die Augenhöhlen tot und schwarz waren.
Das Wesen führte seine Hand nach oben und griff sich an die Stirn. Nach einem leise klickenden Geräusch entfernte es die silberne Maske.
Es war Harlan.
„Verzeihen Sie mir“, sagte er leise, „wenn ich Sie erschreckt haben sollte.“
Darius wusste zunächst nichts zu entgegnen. Verwirrt starrte er seinen Besucher an.
„Was ... was tun Sie hier?“ stammelte er dann.
Harlan schien selbst etwas verlegen.
„Ich suchte Sie“, sagte er schließlich. „Ich suchte die Nähe von jemandem, der mein Denken versteht.“
Er sah an sich hinunter.
„Mein Aufzug mag Sie irritieren“, meinte er, „aber dies ist die zweckmäßigste Kleidung, wenn man sich tagsüber nach außen wagt.“
„Sie ... Sie haben spezielle Kleidung, die für tagsüber angefertigt wurde?“
Darius hätte lügen müssen, hätte er nicht Derartiges geahnt. Er zog es aber noch immer vor, ganz naiv zu wirken.
„Nun ja, sie ist recht selten in Gebrauch. Doch greifen wir damit zurück auf eine recht alte Tradition. Schon früher sahen sich manche Seelen dieser Stadt als zu eingeengt, zu beschränkt auf die Zeit der Dunkelheit.“
„Das Licht ist zu hell für uns, nicht wahr?“
„Ja, leider.“
„Sie kennen die Welt bei Licht?“
„Nicht viel besser als Sie.“
Er sah Darius in die Augen. Keineswegs unfreundlich. Eher ein wenig melancholisch.
„Dann kennen Sie ein wenig, aber nicht viel.“ Darius entschied sich, Harlan in diesem Punkt nichts vorzumachen. Vorsicht schien dennoch geboten.
Harlan wandte sich ab. Einmal mehr ging sein Blick in die Ferne.
„Die Welt bei Licht ist ganz anders“, sagte er. „Schöner. Lebendiger . Ich sehne mich nach dem Licht.“
Er wandte sich wieder zu Darius hin.
„Haben Sie jemals Farben gesehen?“
„Farben ...?“
„Farben. Rot. Blau. Grün. Blau. Violett ...“
Grün.
Eine Farbe, die Darius nie vergessen würde. Ein warmes Gefühl stieg in ihm auf das ihn schier überwältigte. Unwillkürlich musste er seufzen.
„Ich wusste, dass Sie wissen, wovon ich spreche.“
„Die Farben sind uns nicht vergönnt“, sagte Darius, „nicht in unserem Dasein hier in der Finsternis.“
„Warum sind wir dann in der Lage, sie dennoch wahrzunehmen? Dies muss doch einen Sinn haben!“
Etwas Gequältes war in Harlans Stimme zu vernehmen.
„Es ist doch lediglich die Dumpfheit und das tumbe Dahinvegetieren von allen, das uns in diesem ewigen Zwielicht verharren lässt!“
Dies sagte er beherrscht, doch unverkennbar zornig.
„Aber genau dieses ist es doch, das Sie fördern und fordern!“ sagte Darius.
Harlan schwieg.
„Ja“, sagte er dann. „Und doch ist
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