Die schlafende Stadt
einfach.“
„Ich wundere mich etwas, ausgerechnet von dir solche Worte zu hören“, sagte Darius ungewohnt aufsässig, „gerade du bist es doch, der Regeln gern einmal durchbricht und sich seine Freiheiten nimmt! Und jetzt sprichst du mir vom stumpfen Vergessen und Wegschieben? Ich soll die Wahrheit einfach ignorieren? Das kann doch nicht dein Ernst sein!“
„Es ist mein voller Ernst!“ zischte Beda ungewöhnlich erregt. „Wenn du es nicht selbst tust, wirst du dazu gebracht! Glaube mir, ich habe selbst meine Zeit gebraucht, um das zu verstehen! Ach, wenn ich dich durch meine eigene Nachlässigkeit doch nie so unheilvoll angeleitet hätte!“
„Und woher kommt diese sogenannte Nachlässigkeit, wenn du um die Gefahren weißt?“
„Weil ich genauso war wie du!“
Bedas Gesicht wirkte jetzt müde, als koste ihn diese Unterredung übermäßig viel Kraft.
„Glaube mir, Darius, einst begann auch ich, über das hinauszusehen, was uns als normaler Alltag erscheint. Ich begann, immer mehr Dinge in Frage zu stellen. Ich weiß nicht, welcher Irrsinn mich dazu verleitet hat, aber ich machte sogar Pläne, das Schloss zu erforschen, weil ich dort etwas vermutete, das die Erklärung für all das liefert, was wir als gegeben hinnehmen.
Und dann geschah genau das, was dir jetzt vermutlich passiert. Auf einmal sah ich sie , immer mehr von ihnen, die von der einen, wie die von der anderen Seite. Wo die einen mich einschüchterten, umwarben mich die anderen. Doch bei niemandem war ich sicher, worum es letztendlich geht: um das Heil oder das Verderben, das Wohl aller oder um die pure Macht.“
„Und jetzt?“
„Ich habe mich wieder zurückgezogen, habe mich verabschiedet von der Illusion, etwas Besonderes sein zu können, jemand, der unsere Welt ändert oder gar rettet. Es ist vermessen. Das ist alles zu groß, zu groß für mich, zu groß für dich, zu groß für die Gruppe von angeblichen Rebellen, zu groß für uns alle. Ich begnüge mich wieder mit dem, was ich am besten kann: Die Sterne erforschen. Und damit verschwanden sie wieder, nach und nach. Die Welt ist wieder friedlich für mich, und ich rate dir, es mir nachzutun.“
Darius nickte aufmerksam, wusste aber sofort, dass er Bedas Beispiel nicht würde folgen können. Zu mächtig war seine Sehnsucht nach jenem unbekannten, wundervollen Wesen, dem er vielleicht schon auf der Spur war. Aber dies wusste Beda nicht.
Beda hatte jetzt wieder seinen entspannten Gesichtsausdruck. Er räkelte sich jetzt lässig auf seinem Sessel und sagte: „Ich behalte mir natürlich noch immer vor, trotzdem meinen Blick schweifen zu lassen, und die Welt zu analysieren. Dies geschieht freilich stets im gewohnten Rhythmus, langsam, müde und still. Und dann, ja dann wird vielleicht meine – unsere – Stunde kommen.“
Damit setzte er sich wieder zu seinen Karten, und Darius begriff, dass die Unterredung damit beendet war.
Auch er griff wieder zu Feder und Tinte und begann endlich, nach Tagen des Grübelns und sinnlosen Hantierens, die Kopierarbeit fortzusetzen, die nun schon so lange überfällig war.
Beda lächelte wohlwollend.
Die größte Qual für Darius war es einmal mehr, den Unbeteiligten zu spielen. So sehr er begehrte, sich mit Uriel auszutauschen, so sehr war ihm bewusst, dass er mit Bedacht handeln musste. Gleichzeitig fühlte er den Auftrag Harlans auf seiner Seele lasten, und dann war wiederum Bedas Warnung ihm wert und teuer. Und tatsächlich: am besten ging es ihm, wenn er sich auf das Unbeteiligtsein zurückzog, friedlich seine Arbeit tat, zur Andacht ging. Allein dies ermöglichte es ihm, aus der Spannung von Anforderungen, Pflichten und Zwängen herauszutreten.
Und doch vermochte auch diese Einsicht nicht, jene Sehnsucht zu stillen, die seinem Dasein so viel Sinn gab.
An einem dieser Tage hatte er wieder einen Traum.
Er geht durch eine langen Gang. Er ist hell erleuchtet, aber dennoch nicht freundlich. Kalt, unpersönlich. Und dennoch treibt es ihn voran, denn das Ziel seiner Sehnsucht ist nah. Nur noch wenige dieser immer gleichen Türen, dann wird er die treffen, die seine Seele liebt.
Er tritt durch die Tür hindurch, einfach so. Es war ihm klar, dass sie nie ein Hindernis sein würde. Das Zimmer ist dunkel, doch er sieht.
Als sei es heller Tag.
Langsam nähert er sich dem Bett, auf dem sie liegt.
Sie schläft.
Schön ist sie.
Nicht, dass er es nicht gewusst hat. Aber sie zu sehen, in all ihrer Lebendigkeit, ihrer Gegenwärtigkeit, das ist
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