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Die schlafende Stadt

Die schlafende Stadt

Titel: Die schlafende Stadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Steiner
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wusste, dass ich sie bereits früher als Neuzugänge archiviert und verzettelt hatte. Alle trugen sie mein Zeichen.
    Diese Erkenntnis stürzte mich in Verwirrung und Verzweiflung.
    Was für einen Sinn sollte es machen, immer dieselben Bücher neu zu archivieren? Warum machten mehrere Bibliotheksangestellte eine Arbeit, die unzählige Male bereits getan worden war? Wer entfernte regelmäßig die Ergebnisse unseres Wirkens? Und warum standen die Bücher immer an verschiedenen Orten?“
    „Ja, warum?“ fragte Darius gespannt.
    „Ich fand zunächst keinerlei Antworten. Auch war niemandem außer mir dieser Umstand aufgefallen. Ein Mitarbeiter, den ich versuchte, darauf aufmerksam zu machen, reagierte mit blankem Unverständnis und wurde sogar abwehrend, als ich eindringlicher wurde. Dadurch erkannte ich, dass ich allein war, völlig allein. Mit niemandem konnte ich meine Wahrnehmung teilen. Eine übermächtige, qualvolle Angst überkam mich, die ich nur mit Mühe verbergen konnte.
    Mein Tun hatte aber einen Nebeneffekt: Ich wurde klarer, meine ständige Dumpfheit wich, und mein Gedächtnis funktionierte besser. Ich begann, die Menschen in der Stadt zu beobachten. Die ausdruckslosen Gesichter, die oft so leeren Blicke. Die immer gleichen Reden im Tempel, die Heil versprechen und doch nur Furcht verkünden. Und jene Priester und Schergen, die sich daran berauschten, im Dienste von Höherem zu stehen, und die doch ohne die Schar der Verstörten, Degenerierten, Folgsamen ein Nichts wären. Sie sind genauso ein Teil des großen Ganzen wie alle anderen auch. Dies ist, was ich langsam erkannte.“
    Hier machte Harlan eine Pause.
    „Sie wundern sich vermutlich, warum ich all das erzähle? Und warum ich jetzt an der Spitze genau jener stehe, die ich im Grunde so verachte?
    Ich werde es Ihnen sagen.
    Eines Tages hatte ich einen seltsamen Traum. Ja, auch Träume waren etwas, was ich zuvor nicht gekannt hatte, doch die nun vermehrt auftraten. Doch diesmal träumte mir von ... Farben . Etwas aus einem unendlich fernen, verlorenen Winkel meines Gedächtnisses schickte mir ein Bild von Blumen, blühenden Blumen, die sich im Winde wiegten. Ich erwachte völlig berauscht.
    Mit den Blumen kam der Schmerz. Ich hatte damit eine Ahnung bekommen von etwas unendlich Fernen, dass ich einst geliebt haben muss, jenseits der Zeit. Und ich hatte es verloren, etwas, was mir unaussprechlich teuer gewesen sein muss.“
    Geliebt! Was für ein Wort! Welch unendliche Wärme ... und welch unendliche Traurigkeit!
    Harlan sah Darius an.
    „Nur Sie wissen, wovon ich spreche. Niemand sonst. Der Einzige in dieser Welt, der so ist wie ich. Daher kam ich her.“
    Darius schwieg bewegt.
    „Aber wie kam es dann dazu, dass Sie in die Riege Derer aufstiegen, die sie begannen, sowohl zu fürchten als auch zu verachten?“
    „Ich habe mich verraten. Auf die gleiche Weise wie Sie.“
    Harlan schien Darius’ überraschten Blick ein wenig zu genießen.
    „Eines Tages blickte ich aus dem Fenster meines Arbeitszimmers.
    Dort, in einer Mauerritze, wuchs eine Blume. Klein war sie, doch sie blühte in einem zarten Violett.
    Es war wundervoll, sie anzusehen. Obgleich meine Augen davon schmerzten.
    Aus Angst, es könnte nur ein Spuk sein, riss ich das Fenster auf und pflückte die Blume. Ich tat dies aber auch, weil ich befürchtete, jemand könnte sie sehen. Eine akute Gefahr in einer Welt ohne Farben.“
    Hier griff Harlan unter sein Gewand und holte umständlich einen zierlichen Briefumschlag hervor. Vorsichtig öffnete er ihn und holte eine kleine, gepresste Blüte hervor. Ein letzter Hauch von einem fahlen Violett lag noch auf den trockenen Blüten.
    „Sie hat mich fast verlassen. Als ich sie pflückte, gab sie mir noch etwas anderes: einen für mein Empfinden überwältigenden, süßen Duft. Ich wusste bis dahin nicht, dass es das gibt.
    Schon bald welkte sie. Ihr Duft verflog. Doch zurück bleibt die Erinnerung an einen wundervollen Augenblick.“
    Zärtlich strich er über die kleinen, vertrockneten Blätter.
    „Meine kleine Blume hat mich verraten“, fuhr er fort. „Plötzlich waren sie da, die Wachen in ihren schwarzen Kutten, die seelenlosen Vollstrecker Jener, die in dem Schloss residieren, das unsere Stadt beherrscht. Albträume quälten mich zu dieser Zeit. Ich vermeinte, Dinge wahrzunehmen die es nicht gibt. Doch sie wussten, was sie taten. Alles war geplant. Und dann bekam ich jenen Brief, der mein Dasein nachhaltig verändern sollte.
    Man lud mich

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