Die schlafende Stadt
die durch die Straßen patrouillierten.
Sie waren überall. Meist standen sie regungslos im Schatten von Eingängen oder Hohlwegen. Manchmal schlurften sie in Gruppen durch das Dunkel der Gassen, um Position zu beziehen, um dann regungslos wie ein Teil der Landschaft zu verharren.
Einige Male pochten sie an Türen. Meist waren sie dann in Gruppen zu ungefähr sechs – wie damals im Tempel. Darius passierte einmal einen Überweg, als er sah, wie sie einen Bürger der Stadt mitnahmen, aus seinem Haus heraus, einen Mann mittleren Alters mit grauem Backenbart, buschigen Augenbrauen und dickem Bauch. Sie nahmen ihn in die Mitte, und er ging mit, ohne ein Wort zu sagen, ganz selbstverständlich, wie freiwillig, den Rock geschlossen, den Hut sorgfältig aufgesetzt, als ginge es um nicht mehr als einen gemeinsamen Ausflug. Und all dies ganz lautlos, wie eine Erscheinung, ein Bild aus einem bösen Traum, geträumt im Fieber, wo die schlimmsten Gedanken zu wahren Monstern erwachsen, weil der kontrollierende und regulierende Verstand noch schläft.
„Renaturierung angeordnet“. Darius wusste nur zu gut, was in Kürze mit diesen Menschen geschehen würde. Erneuert würden sie werden, zu ihrem eigenen Wohle und zum Wohle der ganzen Stadt.
Und dennoch – ausgerechnet um ihn kümmerten sie sich überhaupt nicht. Einmal schritt einer der Schwarzkutten in nächster Nähe an ihm vorbei, lautlos wie ein Schatten – als wäre Darius überhaupt nicht vorhanden, langsam, still, unwirklich.
Wie eine Erscheinung.
In dieser Zeit suchte Darius so oft er konnte seinen Rabenhorst auf. Nur dort, abgeschieden von allem anderen, abgewandt vom Schloss, mit dem Blick aufs offene Meer, fühlte er sich einigermaßen sicher. Auch Beda hatte er angefangen zu misstrauen, obgleich dieser sich so verhielt wie immer.
Beda musste wohl doch etwas dämmern, denn Darius merkte, wie sich die kurzen, verstohlenen Blicke häuften, die Beda ihm zuwarf, wenn sie gemeinsam bei der Arbeit saßen.
„Deine Spaziergänge haben dir offenbar gut getan?“
Beda sah ihn milde lächelnd an.
„Merkt man das?“ fragte Darius.
„Nun, ich dachte mir das. Du warst in letzter Zeit ungewöhnlich lange weg, mehrmals sogar. Aber seitdem bist du gefasster, ruhiger.“
Darius war erleichtert, dass Beda dies so sah.
„Aber wo um Himmels willen bist du tagsüber gewesen?“
„Ach ...“, Darius versuchte sich an einem belustigten Gesichtsausdruck, „ich war immer in der Bibliothek und bin dort völlig versunken in den alten Büchern über die Sterne. Ich bin sogar dabei eingeschlafen und wachte erst am Abend wieder auf. Und dann bin ich viel unterwegs gewesen am Strand und auf den Klippen. Seitdem bin ich wieder zufrieden. Ich weiß jetzt wieder, was eigentlich zählt.“
Beda nickte anerkennend und machte sich wieder an seine Protokolle. „Eine Weile dachte ich schon, dass ich mir Sorgen machen muss um dich“, sagte er nach einer Pause.
„Warum?“
„Na, dieses Fieber, diese Visionen ... es gibt hierzulande Leute, die dies argwöhnisch verfolgen.“
Darius wurde aufmerksam. Ob Beda doch etwas wusste? Jetzt merkte er, wie selten Beda ihn wirklich konkret etwas fragte.
„Was meinst du?“ fragte er vorsichtig.
„Deine Unruhe begann damals, vor einigen Zyklen, als du von jenem Tempelbesuch kamst. Es war dieser eine, bei dem ich nicht zugegen war. Was war damals passiert?“
Darius sah sich flüchtig um. Jedes Wort musste überlegt sein.
„Es gab einen Vorfall damals im Tempel, der mich ... verstört hat“, sagte er dann.
Beda beobachtet ihn aufmerksam. Jegliche Schläfrigkeit war verschwunden. Er wirkte wach und klar wie Darius.
„Ich vermeinte mit einem Mal, einen der Andächtigen zu kennen“, fuhr Darius fort, „ohne zu wissen woher. Ein massiger, dicker Mann.“
„Und?“
„Normalerweise hätte ich den Gedanken weggeschoben, aber dann geschah etwas. Er röchelte laut und schien grauenvolle Qualen auszustehen. Ich konnte den Blick kaum abwenden.“
Darius wollte weitersprechen, doch Beda bedeutete ihm mit einer raschen Handbewegung zu schweigen.
„Ich will nicht wissen, was dann geschah“, sagte er leise, „aber ich ahne, was es war.“
Er sah sorgenvoll aus, nicht so blasiert und ironisch wie sonst.
„Darius, gib Acht auf dich. Es ist manchmal gefährlich, zu viel zu sehen.“
„Aber was soll ich tun?“
„Am besten das, was alle tun. Du lässt es vorbei sein. Und dann schließlich ist es nie gewesen. Ganz
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