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Die schlafende Stadt

Die schlafende Stadt

Titel: Die schlafende Stadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Steiner
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hinsehen.
    Nichts Besonderes auf dieser Seite.
    Blättere um.
    Er fürchtet sich davor, aber seine Finger nehmen die Seite und wenden sie um.
    Dort ist es, gleich oben.
    Sieh hin!
    Nun mach schon. Du kannst nichts daran ändern!
    „Nein, nein!“ schluchzte Anselm. „Nicht der kleine Wilhelm!“
    Er wusste, dass Wilhelm Anstein krank war, aber er hätte nicht gedacht, dass es gleich so schlimm sei. Doch dort stand es, eindeutig zu sehen, und er wusste, dass es wahr ist, sowie es immer wahr gewesen war. Hinter Wilhelm Ansteins Name sah er ein Kreuz, schwach, wie eine Erscheinung, aber klar zu sehen.
    Der kleine Wilhelm würde sterben, irgendwann dieses Jahr. Sechs Jahre alt.
    Weiter unten war ein weiterer Name mit einem Kreuz versehen. Matthias Gottlieb Fux. Ein bislang rüstiger Mann von einundsechzig Jahren. Er kam nicht oft in die Kirche.
    Er blätterte weiter. Flüchtig registrierte er, dass die alte Frau Grambauer, bereits neunzig Jahre alt, auch dieses Jahr überleben werde.
    Clara Kirchner, Franz Joseph Marquardt, Hannelore Maria Ohnesorg, Heinz Herbert Pichler, Egon Albert Quast. Alle würden sterben. Gottlob waren sie alle schon recht alt und hatten ein erfülltes Leben.
    Hedwig Elisabeth Schöller. Eine junge, schöne Frau von betörendem Liebreiz.
    Pfarrer Anselm schlug die Hände vors Gesicht. Seine Tränen rannen lautlos über die geröteten Wangen. Was würde ihr zustoßen? Warum sollte so ein blühender junger Mensch so vorzeitig gehen müssen, hinüber in jenes dunkle Reich, wo doch hier noch so viel Sonne auf sie wartete? Hinüber, zu all jenen, die schon gegangen waren?
    Schmerzvoll streichelte sein Finger über den Namen. Doch das Kreuz dahinter wollte nicht weichen.
    Er fand noch neun weitere Namen, bevor er das Buch zuklappen konnte.
    Damit war der Bann gebrochen. Eine Mischung aus Erleichterung und Erschöpfung breitete sich in ihm aus.
    Er sah sich um.
    Er war alleine in der Sakristei. Er spürte die kalte Nässe in seinen Augen, die schmerzenden Fingerkuppen. Es war vorbei, wie das Erwachen aus einem Traum.
    Er schlug das Buch erneut auf und untersuchte die kritischen Stellen, doch er wusste, es würde sein wie immer. Alle Kreuze hinter den Namen waren verschwunden, und doch waren sie eingebrannt in sein Gedächtnis. Und alles würde eintreffen dieses neue Jahr, so wie es immer eingetroffen war.
    War dies nun eine Gabe oder ein Fluch?
    War der Tod zu verhindern, wenn man ihn nahen wusste?

    Das neue Jahr erwachte mit einem strahlenden Morgen. Der Reim hing über dem Fluss, und die überfrorene Schneedecke reflektierte gleißend das Licht der Morgensonne. Pfarrer Anselms kleine Kirche füllte sich mit Gläubigen.
    Hermann, der Organist, tat wirklich sein Bestes, um aus dieser Neujahrsmesse ein feierliches Ereignis zu machen. Die Musik erfüllte den gesamten Raum mit herrlichem, majestätischem Klang. Das Sonnenlicht fiel warm und tröstlich durch die bunten Kirchenfenster. Jetzt erschien Anselm die vergangene Nacht wie ein böser Traum, der vorbei war.
    Hedwig Schöller saß in der dritten Reihe. Noch lebte sie. Vielleicht sähe sie auch den Frühling noch, womöglich auch den Sommer. Woran nur kann ein solch junges, so gesundes Mädchen nur sterben?
    Von der Familie des kleinen Wilhelm waren nur der Vater und die ältere Tochter gekommen. Die Mutter war sicherlich bei dem kranken Kind geblieben. Sie tat gut daran.

    Die Messe ging mit einem von Hermanns grandiosen Orgelsoli zu Ende. Wahrhaftig, er könnte selbst im Dom spielen, dachte sich Anselm, als er mit seinen Ministranten aus der Kirche auszog, immer den Mittegang entlang. Er hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, sich immer im Freien, direkt am Ausgang zu positionieren, um jedes Gemeindemitglied persönlich zu verabschieden. Besonders andächtig tat er dies bei jenen Menschen, deren Namen ihm letzte Nacht so schmerzlich bewusst gemacht worden waren. Er nahm bereits Abschied.
    Als Hedwig ihm die Hand reichte, sagte er ihr: „Bitte passe auf dich auf, meine Tochter!“
    Sie lächelte.
    „Vielen Dank, Vater. Doch habt keine Sorge um mich. Ich habe jetzt einen Beschützer.“
    Ein großer, etwas vierschrötig wirkender junger Mann trat an ihre Seite. Er hatte bereits neben ihr auf der Kirchenbank gesessen, doch Pfarrer Anselm hatte ihn noch nie zuvor gesehen.
    „Dies ist Alois Frauendorff, mein Verlobter.“
    Der Vorgestellte reichte dem Priester freundlich lächelnd seine große Pranke.
    „Wir planen, bald zu heiraten“, sagte er mit

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