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Die schlafende Stadt

Die schlafende Stadt

Titel: Die schlafende Stadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Steiner
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Ansichten zum selben Thema anzubringen. Hildegard, die älteste, saß die ganze Zeit stumm und wie versteinert da und kaute geistesabwesend, langsam und lautlos ihr Fleisch, während sich, von ihr unbemerkt, eine Spur brauner Bratensoße von ihrem rechten Mundwinkel bis zum Kinn zog und dort in einem großen Tropfen endete.
    Pfarrer Anselm war ein überaus höflicher Mensch. Er widmete den Damen alle Aufmerksamkeit, die er aufbringen konnte, obgleich seine innere Qual wuchs, je weiter die Zeit sich auf Neujahr zubewegte. Die Angst vor dem, was ihm bevorstand, ließ ihn immer öfter abschweifen. Er verlor ständig den Faden, und suchte dies durch Lächeln und zustimmendes Nicken zu kaschieren, auch wenn er innerlich zitterte.
    Auguste bemerkte es als einzige.
    „Ist Ihnen nicht wohl, Herr Pfarrer?“
    „Oh doch, doch“, stammelte er und nahm einen großen Schluck Wein, „verzeihen Sie mir, ich bin noch ganz in Gedanken an die Messe des heutigen Abends.“
    „Sie meinen die Predigt? Wo sie uns von Abschied und Erneuerung sprachen?“
    „Ja, genau“, antwortete er schleppend, „und von all denen, die gegangen sind dieses Jahr ...“
    „Wir wissen, dank sei dem Herrn, dass sie auferstanden sind.“
    „Gott sei gelobt, so ist es. Und doch schmerzt es, wenn wir Abschied nehmen müssen.“
    „Das ist wahr“, warf Adele ein.
    „Auch im kommenden Jahr werden wir Menschen gehen lassen müssen, die wir lieben.“
    „Oder wir gehen zu denen, die wir lieben“, ließ sich überraschend Hildegard vom Ende der Tafel vernehmen. Sie sagte dies genauso knapp und tonlos, wie sie das ganze Mahl eingenommen hatte. Dann beförderte sie ein großes Stück Fleisch in ihren faltigen Mund und begann geräuschvoll darauf herumzukauen.
    „Sie war zwanzig, als ihr Verlobter starb!“ wisperte Auguste Anselm bedeutungsvoll ins Ohr. „Der Türkenkrieg!“
    Anselm nickte verständnisvoll. Selbst Dinge von solch tragischem Inhalt konnten ihn jetzt nicht mehr anrühren. Seine Unruhe wuchs.
    Es rief ihn, dieses Schicksal, das ihn in jeder Neujahrsnacht so quälte. Noch widersetzte er sich. Nein, er würde jetzt nicht aufbrechen, nein!
    Auguste hatte ihn etwas gefragt, aber er hatte nicht zugehört.
    „Bitte verzeihen Sie“, sagte er bebend, „ich war in Gedanken.“
    „Ob Sie noch ein wenig Nachtisch möchten.“
    Sein Magen war wie zugeschnürt. Schwer wie Blei lag ihm das gute Essen im Bauch. Er fühlte sich jetzt krank, fiebrig und zitternd, und der Wein machte ihn schwindelig, ihn, der sonst so bescheiden und asketisch lebte.
    „Fühlen Sie sich nicht wohl?“ fragte Adele jetzt.
    „Oh doch ... doch, es geht wieder. Mir war ein wenig schwindelig. Ich fürchte, ich bin den guten Wein nicht gewohnt.“ Er versuchte ein schwaches Lächeln.

    Ihm Klang noch das Läuten der Neujahrsglocken in den Ohren, das sein Küster treulich besorgt hatte. Bereits eine halbe Stunde war das neue Jahr schon alt, als er sich auf den Heimweg machte. Sündhaft spät, unmäßig, die gastfreundlichen Schwestern für seine Ängste ausnutzend, so kam ihm alles vor. Jetzt konnte er nicht unterscheiden, ob sein Zittern von seiner Angst oder der klirrenden Kälte herrührte, obwohl er tapfer und stramm durch den Schnee schritt. Seine Lunge schmerzte von der schneidend kalten Luft. Bald tauchte die Kirche im klaren Mondlicht auf. Nur noch wenige Minuten, und er würde wieder im Warmen sein. Vielleicht machte er sich noch einen Tee, am besten einen guten Kräutertee, der beruhigte die Nerven.
    Das Wasser begann gerade auf Pfarrer Anselms kleinem Holzofen zu kochen, da merkte er es. Genauso wie jedes Jahr um die Zeit.
    Aufstehen, aufstehen! Es ist Zeit!
    Und er muss aufstehen, jetzt gleich.
    Es muss sein. Tust du es nicht gleich, musst du es nur wenig später tun!
    Er stand auf.
    Geh jetzt!
    Er gestattete sich, seinen Mantel noch zu nehmen. Er ergriff schnell die Laterne.
    Er geht. Er öffnet die Tür und geht die Stufen hinunter.
    Er sperrt die Pforte auf und tritt ins Freie.
    Gehe weiter!
    Er geht durch den Schnee und schließt die Kirchentür auf. Er hält die Laterne hoch, doch das braucht er in Wahrheit nicht. Er würde den Weg auch in der Dunkelheit finden. Er durchquert das Mittelschiff, geht durch die kleine Seitentür hindurch in die Sakristei.
    Dort liegt das Gemeindebuch.
    Öffne es.
    Er stellt die Laterne neben das Buch. Zaghaft öffnet er den Buchdeckel.
    Er schaut auf die Namen, die dort stehen. Jeder Name ein Mensch, den er kennt. Er muss

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