Die schlafende Stadt
einer etwas hohen, gequetschten Stimme, die auf unangenehme Weise zu seiner auffallend kleinen Stupsnase passte. „Ich würde mich freuen, mit Euch demnächst darüber sprechen zu können, Herr Pfarrer. Auf Hedis Wunsch täten wir dies gerne hier bei Euch.“
„Ich freue mich stets, junges Glück von Gott segnen zu lassen“, erwiderte Anselm freundlich, eine eigenartige Aversion verdrängend.
Unruhig sah er dem jungen Paar nach. Hedwig hatte sich ihrem Verlobten untergehakt. Zierlich und etwas zerbrechlich sah sie neben dem massigen Burschen aus. Er fragte sich, wie ein so schönes, kluges Mädchen sich an einen solch grobschlächtigen Kerl weggeben konnte.
Doch dann gab es noch viele Hände zu schütteln.
Bösen Engeln will ich gleichen,
Fahlen Blicks mich zu dir schleichen,
Gleiten an dein Lager sacht,
Wie ein Schattenspuk der Nacht.
Schenken dir zu tausend Malen
Küsse kalt wie Mondesstrahlen,
Wie die Schlange schlüpfrig feucht,
Die um Gruft und Steine kreucht.
Kommt der bleiche Tag daher,
Ist die Stelle kalt und leer
Bis die Abendnebel brauen. –
Wenn es Andrer Kunst gelingt,
Dass dich Zärtlichkeit bezwingt,
Will ich Herr sein durch das Grauen.
Charles BAUDELAIRE, Un Fantôme
Z errissen – nur so ließ sich benennen, was Darius fühlte. Doch merkte er, wie Harlans Geschichte zu wirken begann. Der echte Schmerz, den er geschildert hatte, hatte ihn überzeugt. Doch der Gedanke, von dem er nun gänzlich erfüllt war, war der, freie Hand zu bekommen, um jene Frau zu finden, die seine Seele so sehr liebte.
Aus diesem Geist heraus erklomm er nun die Stufen, die ihn in das Schloss führten, zu Harlan, mit dem ihn so viel verband. Noch scheute er sich, ihm von all dem zu erzählen, wonach er sich sehnte.
Das Große Portal wirkte noch immer bedrohlich wie ein großes, gefährliches Maul. Wie ausgestorben war heute alles, keine Wachen, kein Laut. Nichts war zu hören als das leise Plätschern der Brunnen, deren Wasser die kunstvollen Marmorbecken in Richtung der Stadt über muschelförmige Beckenterrassen verließ.
Darius sah sich verloren um. Sollte er zur Hauptfestung gehen oder in die Kaserne? Allein stand er im großen Vorhof und besah sich die labyrinthischen Durchgänge, die in allen Richtungen vorhanden waren. Sternenförmig waren sie angelegt, und ein jeder schien in eine andere unendliche Finsternis zu führen.
Obgleich es ihn irritierte, wie verlassen dieser Ort war, entschied er sich zunächst für den vertrauten Weg. Er wandte sich also nach links, erkannte bald darauf die große Kaserne, und betrat den Tunnel. Dort war auch die Tür, die zum Zugang zu Harlans Empfangssaal führte.
Darius zögerte noch. Aufgrund einer kurzen Eingebung ging er langsamen Schrittes weiter.
Der Tunnel führte in den großen Kasernenhof. Dorthin wo er vom Fenster aus die endlosen Reihen gesichtsloser Soldaten erblickt hatte. Jetzt, wo er aus dem Schatten trat, lag er leer und öde vor ihm im Mondlicht. Der Sand, der den Boden bedeckte, sah aus, als sei er eben erst sorgfältig gekehrt worden, so gleichmäßig war er verteilt. Nichts kündete davon, dass hier erst vor kurzem tausende von Stiefeln marschiert waren. Einige Sandkörner funkelten im Licht des Halbmondes.
Ein leichter Wind strich durch die wüstenhafte Leere und wirbelte an einigen Stellen sachte etwas Staub auf.
Ohne die vielen Soldaten wirkte der Innenhof viel größer. Darius trat ein paar Schritte hinein und wurde sofort von dem Gefühl der unendlichen Einsamkeit ergriffen. Schutzlos fühlte er sich, das einzige Wesen in einem riesenhaften Nichts, das keinerlei Schutz bot. Die unzähligen Fenster, die die umgebenden Wände aufwiesen, blickten schwarz und tot auf ihn, wie leere Augenhöhlen, aus denen das Leben schon vor Äonen von Jahren gewichen war.
Darius ging in den Tunnel zurück und versuchte, die Tür zu öffnen.
Sie war verschlossen.
Das Echo, das sein Rütteln am Türknauf verursachte, erzeugte ein tönendes Echo. Es musste auch im verstecktesten Winkel der Schlossanlage hörbar sein. Irritiert hielt er inne. Rührte sich etwas? Doch er hörte nichts als das sanfte Pfeifen des Windes.
Wo waren sie alle, die Wachen, der widerwärtige Ambrosius?
Wo war Harlan?
Darius entschloss sich, nicht sofort ins Observatorium zurückzukehren. Harlan hatte ihm ganz offen Eingang gewährt, ja sogar den Wunsch geäußert, Darius möge zu ihm kommen, wann immer er dies wollte. Vielleicht war dies ja die Art von Offenheit, wie Harlan sie
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