Die schlafende Stadt
kurze Distanz gerollt war. Dann hatte die lähmende Stille wieder jeglichen Schall verschluckt. Nur noch die Erinnerung hallte in seinen Ohren.
Dann erwachte doch wieder etwas wie Stolz und Aufbegehren in ihm. Warum sollte er weniger das Privileg haben diesen Ort zu besuchen als andere? Außerdem hatte Harlan ihn doch geradezu erwählt!
Er richtete sich auf. Kein Laut war zu hören.
Er fühlte sich jetzt entschlossen, weiter vorzudringen. So trat er nun aus dem Schatten der Säule und schritt langsam auf die Stufen zu, die vor ihm lagen.
Auf der Galerie tat sich nichts.
Darius schritt die Stufen hinab, geradewegs auf das tempelhafte Gebäude in der Mitte der Arena zu. An was erinnerte es ihn? Was für eine Funktion mochte es haben?
Ein Kenotaph?
Darius wunderte sich über sich selbst, diesen Gedanken zu haben. Als er näher kam, erkannte er erst, wie groß auch dieses Gebäude war. Angesichts der Monumentalität der Halle wirkten die zwölf Säulen um ihn herum noch enormer, die Arena noch gewaltiger, und die Stufen führten ihn noch tiefer, als er angenommen hatte.
Schließlich stand er vor dem niedrigen Eingang, der wie die umlaufenden Konsolen klassizistisch gestaltet war, nur dass er keine Figur beinhaltete, sondern eine metallene Tür, die üppig mit zahlreichen Ornamenten verziert war, die an knöcherne Brustkörbe erinnerten, die aber mit pflanzenähnlichen Strukturen verbunden waren. Im obersten Teil war auf jedem Türflügel ein menschliches Auge aus dem Metall getrieben.
Sachte drückte er an die Türflügel. Sie gaben lautlos nach.
Darius betrat eine Halle von der gesamten Höhe des bienenstockartigen Gebäudes. Es verjüngte sich in der Höhe und schien in seinem höchsten Zentrum eine Öffnung, eine Art Oberlicht zu haben. Der Boden war glatt und eben und beherbergte in seiner Mitte ein kreisrundes Wasserbecken, dessen Oberfläche glatt war wie Glas. Das Öffnen der Tür brachte eine kaum merkliche Unruhe auf den klaren Wasserspiegel.
Um das Becken herum standen regelmäßig angeordnet unzählige Schalen, in denen Kerzen brannten. Dies war die einzige Beleuchtung des Saales.
Der Rand beherbergte hunderte von aneinandergereihten Nischen, in denen sich steinerne Sitzbänke befanden, wie ein kreisförmig angelegtes Chorgestühl.
In einer dieser Nischen, weit hinten im Dämmerlicht, erkannte Darius eine sitzende Gestalt.
Darius wagte sich nicht zu rühren. Doch die Person bewegte sich nicht. Sie saß dort wie eine Statue.
Darius trat vor. Im Näherkommen gewahrte er, dass es sich wohl um einen Mann in einem fließenden, schwarzen Gewand handelte. Er hatte seine Hände fest auf die Lehnen gelegt, der Kopf ruhte im Schatten der Nische auf der Rückenlehne.
Harlan?
Darius war ganz nahe herangekommen. Es war tatsächlich Harlan.
Seine Augen waren geöffnet und starrten in eine weite Ferne, irgendwohin weit nach oben. Die Iris war dabei jeweils dicht unter die Lider verschoben, sodass ein großes Stück des weißen Augapfels freilag. Seine Lippen waren leicht geöffnet.
Starr war auch sein ganzer Körper.
Er sah aus wie tot. Nur das gelegentliche, kaum merkliche Vibrieren der Unterlippe verriet, dass etwas von ihm noch gegenwärtig war.
„Harlan!“
Darius hauchte mehr als dass er flüsterte.
Harlan blieb unbeweglich. Sogar sein Mund war jetzt vollkommen starr.
Darius ergriff Harlans Hand. Sie fühlte sich hart wie Stein an, wie kalter Marmor, unnachgiebig und glatt, gar nicht wie menschliche Haut. Auch sein Ärmel hatte die gleiche Art von Kälte, als sei er aus einem Stück gemeißelt. Fremd wirkte er, sehr fremd.
Aus einem eigenartigen Impuls heraus setzte er sich in die benachbarte Nische. Er legte seine Hände auf die steinernen Lehnen und lehnte seinen Kopf an die Rückenlehne. Erst sah er verstohlen nach nebenan, auf Harlan, der sich noch immer nicht rührte. Dann sah er auf das stille Wasserbecken.
Seine Augen verloren sich nach einer Weile darin.
Da war es wieder! Als ob ein Steinchen herunterfällt und etwas Sand nachrieselt. Ähnlich wie gerade. Darius schrak auf. Doch es war bereits etwas geschehen.
Vor seinen Augen hatte sich ein Bild geformt.
Er sah in einen Raum. Zwei Frauen saßen an einem Tisch und aßen etwas. Sie waren beide elegant gekleidet und schienen miteinander zu sprechen. Die eine griff nach einem Glas, das langgezogen war wie ein Blütenkelch. Die andere war müde oder nachdenklich und stützte ihren Kopf in die Hand.
In diese Szene traten plötzlich zwei
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