Die schlafende Stadt
Theater. Gleichzeitig wurde er sich zunehmend unsicherer, ob dies ein skurriler Traum war, in dem er sich befand und womöglich jeden Augenblick aufwachen könnte, oder die Wirklichkeit – was immer das auch sein mochte.
Ja, das Infragestellen der Wirklichkeit war etwas, was die Menschen ganz offenbar ebenso faszinierte wie erschreckte. Vielleicht wollten sie deshalb immer mehr darüber wissen. Oft war es eine einzige Frage von George, die eine ganze Diskussion entfachte, meist mit einem leichten Lächeln gestellt, etwa wie: „Sind Sie sich wirklich sicher?“ Nein, wirklich sicher war sich derjenige dann nicht und kam ans Nachdenken. Oder er war sich ganz sicher, dann saß immer jemand in nächster Nähe, der dies anzweifelte. Es funktionierte immer.
Eines Abends war es spät geworden. Die interessierten Damen hatten sich bereits zurückgezogen, entzückt über die Gegenwart des Geisterreiches, das sie durch George gesehen zu haben glaubten, obwohl George wie üblich nichts dergleichen hatte verlauten lassen. Der Gastgeber, Herr Aribert von Klemmbauch, hatte ihn noch dazu überredet, sich mit ihm ins Rauchzimmer zu begeben. So rauchten sie also noch einige duftende, aromatische Zigarren, und Herr von Klemmbauch reichte dazu einen vorzüglichen alten Brandy. Dies war George wesentlich angenehmer als unsichtbare Astralwesen.
„Junger Freund, ich möchte Sie gerne für etwas gewinnen, was mir seit längerer Zeit sehr am Herzen liegt.“
Herr von Klemmbauch sog tief an seiner Zigarre.
„Ich möchte Sie gerne bekannt machen mit einigen Herren, die sehr interessiert sind an dem, was Sie so besonders auszeichnet. Es handelt sich um ... nun, ich sage es offen und klar: eine Geheimloge, die nur auserwählten Männern vorbehalten ist. Es ist eine Ehre, ihr anzugehören. Wir zählen Ärzte, Juristen, hohe Offiziere, ja sogar Angehörige der kaiserlichen Familie zu unseren Mitgliedern. Unser Ziel ist das Erfassen und Veredeln spiritueller Kräfte.“
„Im Aroma dieses Brandys verdichten sich Jahrhunderte von Sonne auf roter spanischer Erde“, sagte George, der noch den langen Abgang des letzten köstlichen Schluckes genoss. Daraufhin blickte er seinem Gegenüber keck in die Augen.
Herr von Klemmbauch stutzte und runzelte die Stirn. Dann blitzte der Ausdruck der Erkenntnis in seinen Augen. Er schmunzelte.
„Hahaha! Sie sind wundervoll in Ihrer reichen Metaphorik! Ich weiß, was Sie meinen!“
Anerkennend hob er sein Glas.
Der Meister der Geheimloge „T.L.T. = Templum Lucis e Tenebris “, war ein finsterer Armenier, Nikolaj Kurdarefian, der mit seinem kahlen Schädel, den stechenden Augen und dem gewaltigen, weißen Schnurrbart fatal an ein Walross erinnerte – oder zumindest an einen kaukasischen Schafhirten. Er sprach ein stark slawisch gefärbtes Deutsch, so dass George trotz seiner ausgezeichneten Sprachkenntnisse oft Mühe hatte, ihn zu verstehen. Dennoch schien er äußerst gebildet und sprachgewandt zu sein; er zitierte eine Fülle von lateinischen, griechischen, persischen, arabischen, hebräischen und sogar chinesischen Quellen jeweils in der Originalsprache, um seine komplexen Thesen zur Erweiterung des spirituellen Bewusstseins zu erläutern. Für George waren es allerdings weder Erläuterungen, noch führten sie bei ihm zu tieferen Erkenntnissen. Er, der Kunstliebhaber, Philosoph, Literat, musste bekennen, dass er niemals mehr als eine vage Ahnung hatte, von was der Meister eigentlich geredet hatte – wenn überhaupt. Kurdarefians Auftritte beschränkten sich zudem auf wenige, äußerst angespannt erwartete Momente. Meist waren die Logenbrüder in festlicher Kleidung im Tempelsaal versammelt, einem großen Raum mit schwarzen Samtvorhängen und einem Boden aus Porphyr, der von zahlreichen Kerzen erhellt war, die in messingnen Leuchtern steckten. Mit dem Schlag einer tiefen Glocke erschien der Meister dann in eine schwarze Robe gekleidet, ließ sich auf einem erhöhten Thron nieder und begann in die erwartungsvolle Stille hinein mit leiser Stimme seine Worte zu sprechen. Dies dauerte oft nur wenige Minuten, dann erhob er sich langsam, sah ernst in die Runde, deutete eine leichte Verbeugung an und verschwand wieder.
George ließ sich seine Ernüchterung nicht anmerken. Er äußerte vielmehr Erstaunen und Anerkennung, und brachte dazu einen Spruch aus seiner eigenen Diesseitsphilosophie, sei es über Blumen, Musik, oder die Liebe, und die überrascht hochgezogenen Augenbrauen der Brüder waren ihm
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