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Die schlafende Stadt

Die schlafende Stadt

Titel: Die schlafende Stadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Steiner
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Kunst des Lebens und der Liebe hatte er gelernt, aber nicht das Leben und die Liebe selbst. Er hatte keine Frau, obwohl er viele Male unsterblich verliebt gewesen war, hatte keine Kinder, obwohl ihre Unschuld, ihre Begeisterung und Unverdorbenheit ihn stets angerührt hatten und er in ihnen immer einen Teil seiner selbst gesehen hatte. Er war reich, hatte aber nie etwas Produktives geleistet. Stets hatte er sich von anderen aushalten lassen, und dies hatte aufs Beste funktioniert. Noch nicht einmal seine Schriften waren von ihm – es waren Mitschriften seiner Vorträge, die seine Jünger angefertigt hatten. Er selbst hatte sich nie um eine schriftliche Niederlegung geschweige denn Systematik seiner Philosophie gekümmert.
    Erstmalig wurde er ernst und melancholisch. Doch was wollte man denn mehr vom Leben? Wo wenn nicht in seiner Position erfuhr man so viel vom Seelenleben der Menschen, ihren Sorgen, ihren Nöten, ihren Freuden?
    Er war, wenn auch anders als alle anderen, am Pulsschlag des Lebens. Damit, so sagte er sich, sollte er sich zufrieden geben.
    Die erste verblüffende Erfahrung machte er, als er herausfand, dass die Ordensbrüder zwischen seinen vagen philosophischen Andeutungen und den hochkomplexen, unverständlichen Worten des Großen Meisters offenbar nicht zu unterscheiden vermochten. Er wurde sofort als Vorsitzender anerkannt, und man äußerte, dass man dies so erwartet habe; es sei allen klar gewesen, dass er, George, die Botschaft Kurdarefians von allem am besten verstanden habe. Der T.L.T. habe den würdigsten aller Nachfolger bekommen.
    George schüttelte insgeheim nur den Kopf. Er überlegte, ob die Dummheit es war, der er ein Denkmal errichten müsste, da er ihr womöglich seinen Lebenserfolg verdankte.

    Die junge deutsche Republik begann ihre ersten Gehversuche, die Auflagen der Siegermächte waren schwer. Die Weltwirtschaftskrise kam, vieles war knapp, einiges fehlte ganz. Selbst George bekam dies zu spüren, und doch gab es noch immer reiche Leute, die sich seinen Rat gegen gutes Geld zu leisten imstande waren.
    Eines Tages suchte ihn eine junge Frau auf, die Tochter eines reichen Tabakhändlers. Sie war höchstens sechzehn, sehr verliebt, sehe aber große Probleme in dieser Beziehung zu diesem Mann und äußerte, George über ihre Zukunft befragen zu wollen, und George gab wie üblich zurück, dass dies vor allem von ihr selbst abhinge, was er sehen könne und was nicht.
    „Ich bin bereit!“ sagte sie lebhaft.
    George, wie üblich in einen schwarzen Frack gekleidet, die goldene Ordenskette um den Hals, rückte ungewohnt nahe und nahm ihre Hand. Dann schloss er die Augen und ließ seine blühende Phantasie sprießen.
    Vor seinem inneren Auge tauchte eine große Stadt auf, Hochhäuser, die bis in den Himmel ragten. Dann blitzte das Bild einer heißen Wüstenlandschaft auf, einigen wenigen grünen Flecken darin, Palmen und niedrigen weißen Hütten. Seine Ohren vernahmen Fetzen einer stampfenden Marschmusik. Das letzte Bild vor seinen Augen war das eines schwarzen Stiefels, der eine zartviolette Blume zertrat.
    George öffnete die Augen. Als letztes Nachbild schwirrten rote Tücher vor seinen Augen, wie wehende Fahnen. Er teilte seiner Klientin all dies mit.
    Sie begann zu schluchzen.
    „Mein Vater will mit uns nach New York gehen“, sagte sie schließlich. „Wir sollen alles hier zurücklassen. Er sagt, dass die Zeiten hier bedrohlich werden.“
    Sie wischte sich die Tränen ab. „Karl, mein Geliebter, würde niemals mitkommen. Seine Familie lehnt die unsere ohnehin ab. Obwohl wir reich sind, erscheinen wir nicht standesgemäß. Sein Vater ist Mitglied in jener Partei, die die Fahnen schwenken, die Sie sahen.“
    Sie lächelte bitter.
    „Mein Bruder ist sogar so verrückt, dass er nach Palästina gehen will. Einen neuen Staat aufbauen, das ist seine Parole. Dies ist vielleicht diese unwirtliche Wüste aus Ihrer Vision.“
    Sie erhob sich und reichte George die Hand.
    „Ich danke Ihnen“, sagte sie gefasst. „Es wird geschehen, wie es geschehen muss. Ich weiß es jetzt. Sie haben mir sehr geholfen.“
    George sah ihr nach. Eine hübsche, schlanke junge Frau mit langen, schwarzen Haaren, tiefschwarzen Augen und starken Brauen.
    Er war wie vom Donner gerührt.
    Hatte er plötzlich wirklich seherische Fähigkeiten?
    Das konnte doch nur Zufall sein!
    Verwirrt starrte er auf die gerade geschlossene Tür.

    Die roten Fahnen waren da.
    George hatte gut daran getan, seinen Orden feierlich

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