Die schlafende Stadt
Großtante bereits im Jahre 1864 Vorformen der späteren Séancen abhielt – dies erfuhr er aber erst viel später. Als er im Jahre 1880 nach Berlin kam, um dort zu studieren, war er jedenfalls überrascht, dass man ihn quasi per sé für einen Experten hielt, was Geister und merkwürdige Phänomene betraf. Schon damals fiel es ihm äußerst schwer, die hochgesteckten Erwartungen zu enttäuschen, die er in den erwartungsvoll auf ihn gerichteten Augenpaaren erblickte – und er erzählte dann Geschichten.
Aus einer Laune heraus beschrieb er ein eigenes Erlebnis, als er in Cornwall spazieren ging, damals, während eines Urlaubes mit seinen Eltern. Es war in der Dämmerung gewesen, die Wellen schlugen mächtig gegen die Steilküste, und der Wind strich durch sein Haar. Eine merkwürdige Spannung war in der Luft, als sei er nicht alleine. Da hörte er die Harfenmusik, ganz deutlich.
Nun, es war dort tatsächlich ein Harfenist gewesen, der ob einer romantischen Stimmung Musik und Natur wohl zu verbinden gesucht hatte. Diesen Umstand ließ George einfach weg und machte einen Geist daraus. Die Feen waren es, deren überirdische Musik an diesem Abend deutlich zu hören gewesen war.
George konnte gut Geschichten erzählen. Seine großen grauen Augen, die immer mit einem leichten Schatten auf den Unterlidern umrahmt waren, wirkten in seinem mageren, blassen Gesicht dann wie magische Kugeln, die einen Blick in die Zwischenwelt ermöglichten. Er konnte geradezu dämonisch wirken, wenn er wollte. Das tat er aber ohne böse Absicht. Es passte einfach zu den Geistergeschichten, und er liebte atmosphärische Schilderungen.
George hätte ebenso gut Schauspieler oder Schriftsteller werden können; seine Phantasie reicht dazu allemal. Seine große Liebe aber gehörte der Philosophie, der Kunst und der Musik. Ausgerechnet sein Heimatland wirkte für ihn in dieser Hinsicht ausgesprochen ärmlich. Die große Zeit der englischen Dichter und Denker war schon Jahrhunderte vorbei, und seit George Frederick Handel hatte es keinen namhaften englischen Komponisten mehr gegeben – und ausgerechnet der war eigentlich Deutscher. Als er zum ersten Mal deutschen Boden betrat, war er andächtig. Das Land von Kant, Hegel, Schopenhauer und Nietzsche! Von Dürer, Spitzweg und Friedrich! Von Bach, Haydn, Beethoven, Schubert, Schumann, Mendelssohn, Brahms und Wagner! Von Goethe, Schiller, Kleist und Hoffmann! In jedem Winkel schienen sich ihm der lebendige Geist und das sprühende Wissen jener großen Denker und Künstler zu verkörpern, das er so bewunderte.
All dies war aber ausschließlich Thema innerhalb seines Studiums. Manchmal kam er dazu, ein Konzert oder eine Ausstellung zu besuchen. Meistens aber war er zu Gast bei reichen, gebildeten Familien, wo er als höchst interessanter Gesprächpartner galt, als Experte für das Reich der Geister. Anfangs waren es die Eltern seiner Kommilitonen, die ihn einluden, später waren es alle möglichen Gesellschaften, wo der geheimnisvolle junge Mann mit den spirituellen Fähigkeiten auftauchte.
Er hatte in Wahrheit nichts von alldem, und er fragte sich immer wieder, wie er in diese Rolle eigentlich hineingeraten war. Das Diesseits interessierte ihn weitaus mehr als das Jenseits. Er hatte eine Vorliebe für Farben, und wenn er im Sommer durch blühende Wiesen schritt, war es ihm, als sei er im Himmel. Ähnliches empfand er bei gutem Essen, oder einfach beim Licht der aufgehenden Sonne. Und wenn er in Beethovens Symphonien ganz und gar versunken war, fühlte er sich lebendiger und gegenwärtiger denn je.
Manchmal erzählte er von seinem Empfinden der Lebendigkeit. Das erntete dann staunende Blicke, dann lächelte man wissend und die Zuhörer hatten offenbar mehr verstanden als er selbst.
Die Situation wurde insofern immer verwunderlicher, als die Einladungen mitunter so zahlreich wurden, dass er immer weniger Zeit hatte, sich um sein Studium zu kümmern, geschweige denn in seiner Musik zu schwelgen. So kam es dazu, dass er sich gezwungen sah, einige mit größtem Bedauern abzusagen. Er begann ohnehin, seiner Rolle als Spiritist überdrüssig zu werden.
Seine Absagen hatten den Effekt, dass die Einladungen sich noch mehr häuften. Oft waren sie seitdem mit dem Zusatz versehen: „Es soll nicht zu Ihrem Schaden sein!“ Je rarer er sich machte, desto höher wurde so sein Zubrot, und so investierte er in ein paar gute Anzüge, und man sah ihn seitdem auf den teureren Plätzen von Oper, Konzertsaal und
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