Die schlafende Stadt
betrachtete er Darius. Grim schien zu überlegen.
„Sie“, fuhr er endlich fort „sie können es vielleicht anders machen als ich. Ja, sogar ...“
So erhebend die Wiederentdeckung der Musik gewesen war, so niederschmetternd war die gegenwärtige Einsicht für Darius.
Grim schaute ihn mitfühlend an.
„Trinken Sie doch noch etwas von diesem vorzüglichen Wein!“ sagte er, ohne den vorhergehenden Satz zu beenden. „Eine wesentliche Konsequenz aus dem, was wir hier und andernorts erörtern, ist, dass die sinnliche Erfahrung der Dinge etwas unschätzbar Kostbares ist. Ein einziger genießerischer Schluck ist wichtiger als jede Sekunde dumpfen Dahindämmerns.“
Er trank einen Schluck aus seinem Becher. „Und doch ist er nur wenig mehr als die Ahnung von allem, was ist .“
Er wandte sich wiederum Darius zu.
„Ich bin nun müde, junger Freund. Es gibt noch vieles zu besprechen. Doch es tagt, und wir sollten uns zurückziehen. Eine Bürde, der wir nach wie vor unterworfen sind. Serge wird Ihnen Ihre Schlafstatt zeigen.“
Die Kammer, in die Serge Darius geführt hatte, war klein, ohne eng zu sein. Sie war von quadratischem Grundriss, in der einen Ecke war das Bett untergebracht, auf der anderen Seite befanden sich ein Tisch mit einem Hocker, Waschutensilien, bestehend aus einer großen Schüssel und einem Krug, sowie einigen zusammengefalteten weißen Tüchern. Das faszinierendste jedoch war der Spiegel an der Wand darüber, ein perfektes Oval, das von einem geschnitzten Drachen gehalten wurde. Darius betrachtete sein Gesicht - das erste Mal - seit wann? Es war ein blasses, schmales Gesicht mit dunklen Augen, umrahmt von längeren, welligen, dunklen, fast schwarzen Haaren, die bis in den Nacken reichten. Die Wangenknochen traten charakteristisch hervor, ohne dem Gesicht etwas Breites zu verleihen. Dagegen wirkte auch die schmale, lange, aber gerade Nase über dem vollen, geschwungenen Mund und dem energischen Kinn. Die Stirn über den starken, dunklen Augenbrauen war ebenfalls gerade und hoch, doch die lockigen, ein wenig ins Gesicht hängenden Haarsträhnen kontrastierten intellektuelle Strenge mit jugendlicher Lebendigkeit. Ernst blickten die Augen, und die Schatten auf den Unterliedern zeugten von Müdigkeit und Schwere.
Darius legte seinen Gehrock ab und lockerte seinen Binder. Während er sich auf das Bett setzte, um seine Schuhe auszuziehen, fiel sein Blick nach oben. Die Kammer hatte weder Decke noch Gewölbe, vielmehr verbanden sich die Wände mit zunehmender Höhe zu einem sich rund verjüngenden Kegel. Wie ein Bienenstock von innen sah es aus, oder wie jene orientalischen Kornspeicher, die es schon in der Antike gegeben hatte. Weit oben, an der Spitze befand sich das einzige Fenster des Raumes, in unerreichbarer Höhe, klein und rund, aber groß genug, um genug Licht für den Raum einzulassen. Ein eigenartig warmes, helles, fast rosafarbenes Licht, das die Innenseite des Kegels kräftig erleuchtete, ganz anders als das fahle, silbrige Mondlicht.
„Die Morgenröte“, murmelte Darius.
Er legte sich auf das Bett und streckte sich. Er stellte fest, dass er sich wohl fühlte. Er verschränkte seine Arme hinter dem Kopf und schloss die Augen. Eine andere Melodie als die zuvor gespielte war ihm in den Sinn gekommen - rhythmischer noch, tänzerischer, von geradezu unverschämter Leidenschaft. Es war Antonín Dvořáks zwölftes Streichquartett, das amerikanische. Sein Lieblingsstück. Seine Hände machten automatisch die Bewegungen des Spiels. Welche Welt war es, die er hinter sich gelassen hatte? Warum nur hatte er jegliche Verbindung danach gekappt, wenn doch ein Teil von ihm sich so nach dem Vergangenen sehnte? War es freiwillig gewesen, aufgrund eines Motivs, das ihm entfallen war, oder war es ihm auferlegt, aufgezwungen womöglich, damit er sich, wie Grim angedeutet hatte, besser fügte in das, was jetzt seine Welt war oder sein sollte? Eine Ahnung stieg in ihm auf, eine bestürzende, ängstigende Ahnung, die er sich wehrte Erinnerung zu nennen. Und doch wusste er, dass es die Wahrheit war. Ein lange unbekanntes, fern vertrautes Gefühl erfüllte seine Seele, von der Tiefe seiner Mitte bis an die Oberfläche seiner Haut.
Etwas rann seine Wange hinab. Es war eine Träne.
Wach auf! Du bist frei!
Austin Osman SPARE
G eorge stammte aus England, aber ob seine Neigung zu mystischen und okkulten Dingen von dieser Abstammung herrührte, vermochte er selbst nie zu sagen. Tatsache war, dass seine
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