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Die schlafende Stadt

Die schlafende Stadt

Titel: Die schlafende Stadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Steiner
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hatte.
    Grim strahlte. Sein Gesicht war wie verklärt. „Wie lange habe ich Bachs Chaconne nicht mehr gehört!“ flüsterte er. „Ich danke Ihnen. Dies war mir die größte Freude seit langer Zeit. Seit sehr langer Zeit .“
    „Vielleicht möchten Sie sich etwas ausruhen? Sie haben wahrhaft Großes geleistet.“
    Uriel hatte die Geige sorgfältig in ihrem Kasten verstaut. Darius jedoch fühlte sich so lebendig und wach wie er es bisher nicht kannte.
    „Ich bin Geiger“, sagte er, mehr zu sich selbst.
    „So ist es. Ganz offensichtlich ist es so.“
    „Aber warum wusste ich es nicht?“ fragte Darius. „Wie konnte ich vergessen, dass ich solch wunderbare Musik machen kann? Wie konnte ich die Musik selbst vergessen?“
    „Sie haben sie nicht vergessen“, sagte Grim, „Sie haben erst kürzlich von Musik geträumt. Wissen Sie noch? Das Wissen und Können war nur verborgen in einem bisher unzugänglichen Winkel in Ihrer Seele. Und es gibt noch weitere Schätze zu entdecken. Es gehört nur zu den Eigenarten dieses Daseins hier, die Wege zu diesen Schätzen zu verschütten und zu verstecken, oder aber sie zu leugnen. Denn die Schätze stammen aus einer Welt, die nicht die hiesige ist, die wir hinter uns gelassen haben.“
    „Was für eine Welt sollte dies wohl sein?“ fragte Darius. Ich lebe in der Stadt seit ich denken kann.“
    „Aber, aber! Haben Sie sich wirklich nie gefragt, was vor Anbeginn dieses Denkens gewesen sein könnte? Wozu nur dient der Hafen, der die Neuankömmlinge aufnimmt, genau wie es einst mit Ihnen geschehen ist? Und woher mögen diese Neuankömmlinge wohl kommen?“
    „Ich ... ich habe mir diese Fragen wohl schon gestellt, besonders in letzter Zeit. Aber ich war zu erschöpft zum Denken, und dann bekam ich Fieber ...“
    „Eben! Es bedurfte solcher Maßnahmen, um Sie am Denken und Erkennen zu hindern. Sie waren bereits zu sehr dabei, aus dem dumpfen Dahinvegetieren auszubrechen, welches das System am Leben erhält. Ihr Freund Beda war wachsam und hat gute Arbeit geleistet. Das System der Herrschenden spürt eigenständig Denkende sehr schnell auf und räumt sie aus dem Weg.“
    „Sie wollen doch nicht etwa damit sagen, dass Beda ...“ Darius schien es unvorstellbar, dass Beda ihn in irgendeiner Weise hintergangen haben sollte.
    „Oh, ich habe nicht gesagt, dass Beda in irgendwelche dunklen Machenschaften verwickelt ist. Dies ist zwar denkbar. Ich weiß es aber nicht. Womöglich hat er sich selbst vor einigen Dingen erschreckt, durch die er durch Sie erst aufmerksam geworden ist. In gewisser Weise haben Sie ihn ja, wenn auch unwissentlich, in Gefahr gebracht. Vielleicht wollte er Sie sogar schützen. Wer weiß?“
    Darius schwieg bestürzt. Er dachte an seine Zweifel an der Sinnhaftigkeit ihrer astronomischen Forschungsarbeit. Beda hatte alle Widersprüche hartnäckig geleugnet. Dies hatte Darius immer mehr verunsichert. Er hatte somit begonnen, seinem eigenen Verstand zu misstrauen. Bis er sich schließlich, nach jenem Ausflug in die Oberstadt, für am Rande des Wahnsinns befindlich gehalten hatte.
    Grim hatte wiederum seine Gedanken gelesen. „Es ist nun einmal schwer, klar zu bleiben, wenn einem ständig suggeriert wird, dass das, was man wahrnimmt, nicht stimmt. Es macht krank, an Leib und Seele.“
    An diesem Punkt sagte Grim mit Sicherheit die Wahrheit. Darius fühlte sich erleichtert. Zu erkennen, dass seine Wahrnehmung nicht krankhaft gewesen war, beruhigte ihn und versöhnte ihn mit sich selbst.
    „Das heißt ...“ erkannte er zögerlich „unsere Arbeit war tatsächlich eine Farce? Wir machten immer wieder das Gleiche, immer aufs Neue?“
    „Vermutlich ja. Es sollte der Eindruck entstehen, etwas Nützliches, Wichtiges zu leisten.“
    Darius spürte etwas wie Scham in sich aufsteigen. Harlan hatte die Wahrheit gesagt. Wie ein Geisteskranker in einer Anstalt, dachte er. Beschäftigungstherapie. Nichts weiter. Und wie ernsthaft und engagiert war er seine Arbeit angegangen! Und in Wahrheit interessierte es niemanden. Jetzt, wo er klar zurückblicken konnte, wusste er, dass Grim Recht hatte. Die Erkenntnis schmerzte.
    „Seien Sie nicht niedergeschlagen“, sagte Grim. „Sehen Sie mich an: ich bin alt. Viele Jahre habe ich gebraucht, um auch nur zu erahnen, wie diese Welt hier funktioniert. Und jetzt, im Alter der Erkenntnis, bin ich längst jenseits aller Möglichkeiten, etwas zu verändern. Dies unterscheidet uns beide voneinander. Sie sind jung.“
    Aufmerksam

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