Die schlafende Stadt
erlebte Edward MacDowell, Ferruccio Busoni, Eugène Ysaÿe, Pablo de Sarasate und Joseph Joachim im Konzert, sah Sarah Bernard auf der Bühne, hörte Fjodor Schaljapin und Enrico Caruso. Seite an Seite mit Lloyd George erlebte er einmal ein Konzert in der Royal Albert Hall mit Fritz Kreisler.
Lediglich von Houdini war er enttäuscht. Nicht, weil Houdini schlecht war, nein. Er war großartig – aber, wie George feststellte, war er halt kein Spiritist, sondern lediglich ein Illusionist, wenn auch ein geradezu unglaublich geschickter. Sein Weggenosse Conan Doyle hatte George leidenschaftlich versichert, Houdini verfüge tatsächlich über paranormale Fähigkeiten, und eine kurze Zeit der angespannten Vorfreude hatte George gedacht, endlich einmal einen Beweis der Existenz von echter Magie zu erhalten. Dass selbst Houdini nur mit Tricks arbeitete, ernüchterte George ungemein. Da hielt er sich dann doch besser an Kunst und Musik, das waren die wahren Quellen von Spiritualität.
So wie er selbst stets gefördert worden war, förderte er zuweilen aufstrebende, begabte Künstler, wie jenes junge Streichquartett, das sein Freund Gustav Mahler ihm so ans Herz gelegt hatte, und dessen energiegeladener Vortrag ihn tatsächlich aufs Tiefste beglückt hatte.
Den Weltkrieg verbrachte er ab 1914 in Kurdarefians Haus im Tessin. Viel bekam er von den dramatischen Ereignissen nicht mit. Die vielen Opfer, von denen die Zeitungen berichteten, die er manchmal aus halbem Augenwinkel erfasste, verstörten ihn. Dies war ein hässliches Gesicht dieser Welt, die für ihn immer wundervoll und schön gewesen war, und er mochte nichts davon wissen.
Der große Kurdarefian verbrachte für seine Verhältnisse sehr viel Zeit mit George. Für die Ordensbrüder mit Meistergrad nahm er sich ohnehin mehr Zeit, aber George gewährte er sehr viel mehr Einblicke in sein Privatleben, als jedem anderen zuvor. Eines Tages bat er ihn zu sich.
„Mein lieber George.“
Der slawische Akzent hatte sich nicht einen Deut verändert.
„Ich bin nun achtzig Jahre alt. Zeit, das eigene Dasein zu überdenken.“
Kurdarefians Aussehen war in den über vierzig Jahren, seit George ihn kennengelernt hatte, fast gleich geblieben. Sein monströser Schnurrbart war vielleicht noch grauer geworden.
„Ich gedenke, mich zur Ruhe zu setzen. Ich bin alt und müde. Und ich möchte, dass du mein Nachfolger wirst.“
„Ich!?“
George fühlte eine übergroße Bürde auf sich zukommen.
„Ja. Du bist derjenige, der am allermeisten das verstanden hat und es so verkörpert, wie ich es immer wollte und meinte. Du wirst meine Lehren verbreiten, sie erweitern durch deine Eigenen, und den Orden weit in das zwanzigste Jahrhundert führen.“
George war ebenso geschmeichelt wie verwirrt, denn er war keineswegs der Meinung, von Kurdarefians Lehre viel verstanden zu haben. Gewiss, er hatte viel von der Welt gesehen, war belesen, hatte unzählige Menschen kennengelernt. Aber Kurdarefians Geheimlehre? George bekam ein gewaltig schlechtes Gewissen, seinem Meister die ganze lange Zeit etwas vorgemacht zu haben.
Kurdarefians Lächeln war das Vertrauen und die Zuversicht selbst. Nein, er konnte ihm unmöglich die Wahrheit sagen.
So wurde aus George der Große Meister des T.L.T.
Der Weltkrieg ging vorüber, George traute sich aus der sicheren Schweiz wieder heraus und nahm seine Aufgaben auf. Kurdarefian hatte ihm eine beträchtliche Summe übereignet, die ihm ein sorgenfreies Leben ermöglichte. Niemand wusste, wohin Kurdarefian ging, was aus ihm wurde, ob er irgendwann gestorben war. Er verschwand einfach, vielleicht nach Armenien, vielleicht in die Tiefen des Kosmos. Vielleicht war er unter uns allen, wer weiß?
George nahm seine neue Aufgabe insofern äußerst ernst, indem er sich überlegte, wie er sein katastrophales Unwissen verschleiern könnte. Um die Öffentlichkeit machte er sich keine Sorgen, er hatte es gelernt, sein Auftauchen wohldosiert und mystisch zu gestalten. Wie aber sollte er den Brüdern gegenübertreten, die doch zumeist sehr viel mehr Ahnung hatten, als er selbst?
Nachdenklich betrachtete er sich im Spiegel. Sein Zeigefinger strich über die Unterlippe, wie immer, wenn er sich im Zustand der kreativen Verwirrung befand. Noch immer hatte er seine magere, zierliche Gestalt. Seine Haare waren an der Stirn schütter geworden, die Schläfen waren ergraut. Sechsundfünfzig Jahre war er nun alt, wissend, aber nicht weise, erfahren, und doch seltsam weltfremd. Die
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