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Die schlafende Stadt

Die schlafende Stadt

Titel: Die schlafende Stadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Steiner
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sicher.
    Wesentlich interessanter fand er die Rituale, die ihn entfernt an die Ritter- und Zaubererspiele seiner Kindheit erinnerten. Bereits das Aufnahmezeremoniell war spannend gewesen, wo man ihn mit verbundenen Augen von zu Hause abgeholt hatte, wo er dann im Schein der Kerzen in der Großen Runde der Brüder willkommen geheißen wurde. Dort musste er auf die Knie fallen, das eiserne Schweigen und eherne Treue schwören. Dies missfiel ihm, denn er schätzte erzwungene Demutsgesten nicht; die hatte er bereits in der Schule widerwärtig gefunden. Nun, er nahm es als eine Art Spiel, ernsthaft, aber nicht knechtend. Dann wurde er allein in eine schwarze Kammer geleitet, die mit mystischen Symbolen, Totenschädeln und merkwürdigen Ikonen dekoriert war. Dort war ihm auferlegt, sein Testament zu machen, und allen irdischen Glaubensvorgaben zu entsagen, um seinen Geist frei und bereit zu machen für das Bevorstehende. Das machte ihm regelrecht Spaß. Es entsprach auch genau seiner Auffassung, dass Atmosphäre und Erleben zum andächtigen und damit intensiven Erfassen der Dinge unerlässlich sind. Dies hielt seine Begeisterung auch künftig aufrecht. Die Feuer wurden stets in einer bestimmten Reihenfolge gezündet, Zahlen- und Farbsymbolik spielte eine große Rolle, und Musik war wichtig – alles Dinge, die ihm vertraut waren und wovon er auch etwas verstand. Dies trug ihm schon früh einen Sonderposten in der Loge ein, und seine Farbkreationen, seine Musikauswahl und seine Schrittfolgen, die er vorschlug, fanden allgemeine Anerkennung, ja Bewunderung.
    Ein weiterer, nicht zu verachtender Aspekt war zudem, dass er auch finanziell von der Loge unterstützt wurde, da er als Student noch kein großes Geld besaß. Die reichen Brüder standen für die ärmeren ein und sahen das als Symbol ihrer bereits fortgeschrittenen Veredelung an. George konnte das nur recht sein, zumal er der einzige in der Runde war, der nicht von Haus aus wohlhabend war.
    George stieg rasant auf in den Graden der Loge. Schon nach einem halben Jahr war aus dem Lehrling ein Geselle geworden, und er hatte nun Zugang zu einem guten Teil der Schriften, die von Kurdarefian und dessen geistigen Vorläufern verfasst worden waren. Er verstand, trotz aufrichtiger Bemühungen, kaum ein Wort. Er quälte sich durch die Seiten, und musste bei fast allen der komplexen Schachtelsätze überlegen, wie der eben gelesene Satz überhaupt angefangen hatte. Manchmal glaubte er, den Sinn erkannt zu haben, verwarf seine Deutung dann aber zumeist wieder, weil er auf derart naheliegende Banalitäten kam, die Kurdarefian unmöglich gemeint haben konnte. So blieb für ihn die ganze Botschaft des Ordens ein Mysterium.
    Immerhin unterhielt George so Kontakte zu wahrhaft einflussreichen Persönlichkeiten. Und so wuchs sein eigener Einfluss. Obgleich er nach wie vor diszipliniert sein Studium weiterverfolgte und auch nach einigen Jahren abschloss, wurde er selbst eingeladen, Vorträge zu halten. Sein Name kursierte, und man gewann an Ansehen, wenn man mit George kommunizierte oder zumindest behaupten konnte, ihn zu kennen. Inzwischen selbst in den Meistergrad aufgestiegen, hatte er eine Fülle von Zitaten und weisen Formulierungen zur Verfügung, mit denen er, auf seine Art erzählt, die Zuhörer verblüffen und verwirren konnte. Einige Andeutungen über die Gegenwart der Zwischenwelt und den Geistern der Verstorbenen im Hier und Jetzt rundete den Eindruck des weisen Magiers ab, den er bei allen machte.

    Die Jahre vergingen. Ein neues Jahrhundert begann. Gewaltige Neuerungen veränderten die Welt. Selbstfahrende Gefährte, die Automobile, begannen durch die Straßen zu fahren. Menschen konnten, zunächst spärlich, dann immer mehr, über weite Entfernungen miteinander sprechen, durch die Telefonleitungen, die jetzt überall gezogen wurden. Elektrisches Licht hielt Einzug in die Häuser, auf die Straßen. Die ersten Lichtspielhäuser öffneten, und zeigten bewegte Bilder. Neue, gewagte Formen von Kunst und Musik entstanden. George lernte Cosima Wagner kennen, Gabriele d’Annunzio, Eleonora Duse, Marc Chagall, Wassily Kandinsky, Sergej Diaghilew, Edvard Grieg, und Antonín Dvořák. Er schlug nie über die Stränge, blieb stets maßvoll, gönnte sich aber Reisen in die verschiedensten Länder, um dort Land, Leute und Kultur zu studieren. Aber auch in Berlin fühlte er sich stets wohl. Verschont vom Zwang, arbeiten zu müssen, hatte er viel Muße, sich der Schönheit zu widmen. Er

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