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Die schlafende Stadt

Die schlafende Stadt

Titel: Die schlafende Stadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Steiner
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vor.
    Das, was George jetzt nach und nach von seinem geliebten Deutschland erfuhr, betrübte und erschreckte ihn. Vieles mochte er gar nicht recht glauben, doch ein kurzer Gedanke an jenen unangenehmen, kurzsichtigen Parteifunktionär mit Interesse an Okkultismus gemahnte ihn, dass es die Wahrheit war, nur schlimmer als geahnt, und womöglich noch schlimmer, als bekannt. Später erfuhr er, was gerade dieser Mann an Verbrechen verübt hatte.
    George war seitdem wie erstarrt. Eine quälende, nagende Schuld fraß an ihm. Er machte sich selbst einen Vorwurf, dem er nicht ausweichen konnte.
    Er hatte Macht und Einfluss gehabt, nannte wichtige, einflussreiche Menschen seine Kunden. Sogar hohe Nazis hatten ihn aufgesucht. Und nichts von alldem hatte er genutzt. Er hatte nur Spiele gespielt, ohne den Ernst der Geschehnisse zu erkennen. Millionen von Menschen waren in diesem Krieg gestorben, und er hatte nicht einen gerettet. Er hatte es noch nicht einmal versucht. Anstatt aktiv etwas zu bewegen, war er ein Gigolo der Gesellschaft gewesen, ein Lebemann, dessen Welt nur ihn selbst umkreiste, und er hatte sich genommen, was er brauchte. Tatenlos und desinteressiert hatte er weggesehen, eitel und allem abhanden gekommen, was wirklich zählt.

    George hielt es nicht lange aus in der Einsamkeit. Noch immer war sein Name bekannt, und trotz seines mittlerweile hohen Alters von über achtzig Jahren reiste er noch und hielt Vorträge. Er sprach über die Blumen, die Bäume, die Vögel, den Aufgang der Sonne und den Schein des Mondes, über alles, was ihm im Leben Freude gemacht hatte. Das war ehrlicher, als erfundene Geistergeschichten zu erzählen und Fähigkeiten vorzugeben, die er nicht besaß.
    Das Interesse daran war eher bescheiden. George erkannte verbittert, dass schöne Dinge weniger Geld einbrachten als schlimme. Er brauchte sich keine Sorgen zu machen, Geld hatte er noch immer genug. Aber er war auch bescheiden geworden.
    1958, als George fünfundneunzig Jahre alt war, erschien sein erstes und einziges vollkommen eigenhändig geschriebenes Buch.
    Es war ein Kinderbuch.
    Es hieß: „Der kleine Maulwurf Morris“, und handelte von einem kleinen Maulwurf, der an die Oberfläche der Erde kommt, und es dort so schön findet, dass er gar nicht mehr nach Hause möchte. Morris erlebt viel in der Welt der Menschen, lässt es sich dort gut gehen, führt ein ausschweifendes Leben, und merkt am Ende, dass er doch immer ein Maulwurf bleiben wird. Er kehrt nach Hause in die Erde zurück und findet es dort am allerschönsten.
    George hatte das Buch selbst illustriert, und gerade das etwas naive, ungelenke seiner Zeichnungen passte gut dazu. Es erschien in einem kleinen Londoner Verlag und hatte für ein Kinderbuch einen geradezu spektakulären Erfolg. George stellte fest, dass es ausgerechnet dieses Buch sein würde, durch das man sich später an ihn erinnerte.
    1962, als „Morris“, seine siebente Auflage erlebte, starb George im Alter von neunundneunzig Jahren in seinem Landhaus.
    Die Nachricht von seinem Tod stieß auf recht wenig Resonanz im Vergleich dazu, welch bewunderter Magier er einst war, und dies auch noch verspätet, weil George sich ausgerechnet an einem Weihnachtsabend auf seinen letzten Weg gemacht hatte. Man fand ihn wie friedlich schlafend in seinem großen Armsessel sitzend, neben sich eine halb ausgegessene Schachtel mit Nürnberger Lebkuchen, die er sich stets zu Weihnachten schicken ließ, sowie eine leere und ziemlich teure Flasche Burgunder.
    Er wurde auf dem kleinen Friedhof seiner Gemeinde begraben.
    Nach Deutschland war er nie wieder zurückgekehrt.

    Auf seinem Grabstein stand aber dennoch eine Inschrift in deutscher Sprache. Urs Pflügler, ein Schüler von George aus seiner schweizer Zeit, hatte dafür gesorgt, denn George hatte Deutschland, wie er es sah, immer geliebt, und in seiner großen Zeit wurde er dort auch am meisten geschätzt.
    Sie lautet:

Ihre Wege sind Wege der Freude
und all ihre Pfade sind Frieden.
    TORA, Sprüche 3,17

    A ram, ein kräftiger, athletischer Mann mittleren Alters mit starken, buschigen Augenbrauen und kurzen, noch vorwiegend dunklen Locken hatte Darius abgeholt und ihm die Räumlichkeiten gezeigt. Die ganze Anlage war unterirdisch, wohl gut verborgen, fensterlos, doch immer wieder sorgten die Luken in den konischen Türmen für indirekte Beleuchtung, abgesehen von den zahlreichen Kerzen und Ampeln, die in ebensovielen Nischen und Konsolen abgestellt waren. Darius war aber

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