Die schlafende Stadt
nicht bei der Sache. Er brannte auf das erneute Treffen mit Grim. Eine bange Erwartung auf noch mehr schmerzhafte Wahrheit mischte sich mit dem heftigen Bedürfnis nach väterlichem Trost.
Endlich bedeutete ihm Aram, dass Grim ihn nun erwarte. Sie gingen über eine Galerie, die Überblick über eine Art überdachten Hof gewährte, dessen im Schachbrettmuster gekachelter Boden vollgestellt war mit Maschinen und Geräten unerschließlicher Funktion, und durchschritten ein reich verziertes Portal. Grim und einige andere Anwesende, Männer wie auch Frauen, wie Darius jetzt erstmalig bemerkte, saßen um einen großen runden Tisch in einem weiteren, geräumigen Saal, der ebenso mit einem besonders großen, konischen Turm versehen war. Darius wurde eine Tasse Tee angeboten, an dessen Aroma er sich erst erinnerte, als er die Tasse zum Mund führte.
Grim sah ihn freundlich, aber auch gespannt an. „Ich freue mich, Sie zu sehen“, sagte er. „Aber Sie sehen bedrückt aus.“
Darius antwortete ohne Umschweife. „Ich glaube, erkannt zu haben, was ich bisher ahnte, und was Sie mir in Ihren Andeutungen bestätigten.“
Er sah in die Runde.
„Das, wo wir jetzt sind, ist das Reich der Toten. Das, was die Lebenden das Jenseits nennen. Das wollten Sie mir doch sagen?“
Darius atmete tief.
„Und meine Fähigkeiten und Erinnerungen“, fuhr er fort, „sind Relikte des Lebens von früher. Sie gehörtem dem Darius, der ich einst war. Als ich noch lebte. So ist es doch, nicht wahr?“
Grim sah Darius ernst, aber entspannt an. „Fühlen Sie sich denn tot?“ fragte er nach Weile.
Darius schwieg verwirrt. „Eigentlich nicht“, gab er dann zu, „jedenfalls nicht, seit ich hier bei Ihnen bin.“
„Sehen Sie“, erwiderte Grim, „tot oder lebendig - das ist womöglich reine Ansichtssache.“
Darius war verblüfft. Dies war eine gänzlich neue Idee.
„Aber das, was ich bin, stammt doch aus dem Diesseits“, wandte er ein. „Im Leben war ich Geiger. Seit gestern habe ich Gewissheit.“
„Dies ist sicherlich wahr. Aber vielleicht ist auch das, was Sie das Diesseits nennen, auch nicht der Anbeginn des Seins? Das Leben kommt von irgendwo weit her, und wir wissen nicht, was das ist. Vielleicht gibt es eine Abfolge von Welten, durch die wir alle gehen?“
„Vielleicht.“
Darius war viel zu sehr mit seiner jetzigen Identität beschäftigt, um Halt in diesen philosophischen Gedanken finden zu können. „Das vergangene Leben ist das Einzige, auf dessen Wirklichkeit ich mich verlassen kann. Ich erinnere mich an kaum etwas, aber mein Verstand sagt mir, dass ich, als ich noch lebte, doch wohl Eltern gehabt haben muss. Vielleicht hatte ich eine Frau, vielleicht sogar Kinder.“
„Dies ist nicht nur möglich, sondern sehr wahrscheinlich.“
„Woher wollen Sie das wissen?“
„Es muss wenigstens einen Menschen in der Welt der Lebenden geben, der intensiv an Sie denkt. Sonst wären Sie nicht mehr hier.“
Darius’ Verwirrung wurde wieder größer.
„Sehen Sie“, sagte Grim, „auch wir hier wissen nicht, was der Tod wirklich ist. Denn auch hier, in der Stadt der Toten, sterben die Menschen. Sie gehen durch das Schwarze Tor im Herzen der Festung. Von dort führt der Weg in eine andere Welt, und wir wissen nicht, in welche.
Wir glauben, dass das etwas zu tun hat mit dem, was geschehen ist in dem sogenannten Diesseits. Dass unser Dasein hier etwas damit zu tun hat, wie präsent wir im Diesseits noch sind. Das heißt: wie viele Menschen an uns denken. Je mehr Menschen dies tun, je mehr wir denen, die einst zurückblieben, etwas hinterlassen haben, desto gesicherter ist unsere Existenz hier, in dieser Welt. Und wenn wir dort schließlich vergessen werden, dann ist auch unser Dasein hier zu Ende.“
Darius schwieg. Grims Worte machten Sinn. „Das heißt“, sagte er nach einer Weile, „unser Sein hier ist untrennbar mit unserem vergangenen Sein verknüpft.“
„Dies ist der Stand unseres Wissens“, sagte Grim.
In Darius herrschte eine eigenartige Mischung aus einem liebevollen Gefühl der Verbundenheit – wer auch immer es sein mochte, dessen Gedanken über den Tod hinaus ihm galten – und Unbehagen. „Das bedeutet also, wir sind den Menschen im Diesseits ausgeliefert?“
„Sie können das so sehen. Genau dies ist die entscheidende Frage“, sagte Grim.
„Es ist auch unsere entscheidende Furcht.“ Eine Frau mittleren Alters in einem samtigen schwarzen Kleid und einer spitzenbesetzten schwarzen Haube hatte
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