Die schlafende Stadt
Sie haben es schon immer gekonnt.“
„Wer ist es?“
Grim stockte kurz.
„Die Katzen.“
„Die ... Katzen ?“
„Ja. Und die Vögel. Einige von ihnen zumindest. Und noch einige wenige andere Tiere. Sie gehen von dieser Welt zur anderen und zurück. Es scheint ihnen keine Mühe zu machen. Schon im Diesseits nannte man sie deshalb gelegentlich die „Geschöpfe der Nacht.“
Die Katzen waren für Darius immer ein selbstverständlicher Anblick gewesen, obgleich er sich auch gelegentlich, wenn auch nur kurz aufblitzend, gefragt hatte, woher sie wohl kommen mochten. Besonders jene eine, die ihn so verstört hatte.
„Ja, jene eine.“ Grim sah nach beiden Seiten, um sich aller Aufmerksamkeit zu vergewissern. „Sie kam ebenfalls von drüben. Ihretwegen .“
„Meinetwegen? Aber wie sollte ich ...“
„Ohne es zu wissen, haben Sie sie angelockt. Katzen, müssen Sie wissen, erspüren bestimmte ... sagen wir: Modalitäten des Daseins. Unser Dasein hier in der Stadt ist geprägt von der Abwesenheit jeglicher Farbe. Farben sind viel zu lebendig, viel zu emotional, als dass jene Anderen sie zuließen. Daher fanden sich auch nur Katzen mit grauer und schwarzer Zeichnung ein. Andere Entsprechungen gab es bisher nicht. Bis Sie, junger Freund, anfingen, die Farben aus den Tiefen Ihrer Seele wiederzufinden.“
„Aber ich kannte die Farbe Rot gar nicht ...“
„Doch, das taten Sie. Sie kam aber aus verborgenen Tiefen Ihrer Seele. Rot ist die Farbe der Liebe.“
Grim lehnte sich zurück. Seine Augen bekamen etwas Sehnsuchtsvolles. „Es gibt ein wundervolles Gedicht von Robert Burns über die Liebe. Er besingt darin seine Geliebte als rote, rote Rose ...“
Darius schwieg.
„Diese eine Katze hat dies gespürt und ist dem Ruf gefolgt“, fuhr Grim fort. „Dies ist aber höchst bedrohlich für die Anderen. Sie, Darius, wurden damit zu einer unerwünschten Person. Ihre Beseitigung war vermutlich bereits beschlossen. Doch wir kamen Denen zuvor.“
Grim erhob sich und richtete sich an jemanden im hinteren, dunklen Teil des Saales. „Baruch!“
„Ich möchte Ihnen jemanden vorstellen, der eine besondere Bedeutung für uns alle hat“, sagte er zu Darius. Die Blicke der Anwesenden richteten sich nach hinten. Auch Darius drehte sich um.
Baruch war ein junger, hagerer Mann mit markantem, energischem Kinn. Auf seiner Schulter saß ein kleiner Affe.
„Das ist Melmoth!“ sagte Baruch und zeigte auf den kleinen Affen, „unser Wanderer zwischen den Welten.“
„Ihm verdanken wir die wenigen Sachen aus dem Diesseits, die wir hier haben. Den Wein, den Tee, die Früchte. Leider lassen sich die Katzen nicht beeinflussen oder gar dressieren. Melmoth schon. Er weiß oft genau, was wir wollen“, sagte Grim.
Melmoth kratzte sich am Bauch. Sein Interesse galt nach kurzer Erkundung der Lage Baruchs Haaren.
Darius starrte fasziniert auf das kleine Wesen. Es hatte etwas eigenartig Menschliches an sich. Er sah aus, als dächte er über Darius nach und fällte gerade sein Urteil über ihn. Melmoth tat einen Satz und krallte sich in Darius’ Mantel. Sofort saß er auf seiner Schulter und schnatterte.
„Verehrte Anwesende, hier sehen Sie zwei Geistesverwandte!“ schmunzelte Grim unter dem Gelächter der anderen. „‚Gleich und Gleich gesellt sich gern’ heißt es doch, oder?“
„Verzeihen Sie“, beeilte Grim sich gleich zu sagen, „das war selbstverständlich ein Scherz. Übrigens auch etwas, was in unserer Welt hier weitgehend abhanden gekommen ist.“ Er wurde ernst. „Unser aller Bitte ist nun: Gehen Sie in die Welt der Lebenden zurück. Für uns alle. Und verbinden Sie unsere Welt mit der des Diesseits, auf dass das dumpfe Dahinvegetieren, die Angst, die Macht der Anderen verschwinden möge!“
„Wie sollte ich das können?“ fragte Darius.
„Täten Sie es, wenn Sie es könnten?“ erwiderte Grim.
„Aber ja! Für mich, für euch, für alle.“
Grim neigte sein kahles Haupt. „Mein Herz ist beglückt, auch wenn es nicht mehr schlägt. Wir haben etwas vorbereitet, das Ihnen helfen wird, die Schwelle zu überschreiten. Kommen Sie mit.“
Alle Anwesenden erhoben sich. Ein feierlicher Moment. Grim verließ seinen Platz, umrundete den Tisch und steuerte auf eine kleine Tür mit gotischem Spitzbogen zu und bedeutete Darius, zu folgen. Baruch und die anderen kamen hinter Darius her. Ein paar Stufen führten hinab, dann schloss sich ein Gang an, der mehrere Windungen machte. Schweigend prozessierten sie
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