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Die schlafende Stadt

Die schlafende Stadt

Titel: Die schlafende Stadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Steiner
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sich ein wenig vorgebeugt. „Deshalb beten wir im Tempel für unser aller Gedenken. Dass wir nicht dem Vergessen anheim fallen. Das wäre unser endgültiger Tod.“
    „Aber das wissen wir nicht genau!“ meldete sich Uriel zu Wort. „Wir leiden unter der gleichen verdammten Angst, unter der wir bereits im Leben gelitten haben: Der Angst vor dem Tod. Vielleicht kommt ja danach einfach nur eine andere Welt, in der es vielleicht sogar schön ist? Das Paradies vielleicht sogar, von dem in manchen Büchern geschrieben steht?“
    „Bilde dir doch keine Schwachheiten ein!“ antwortete eine weitere, diesmal recht junge Frau mit einem knochigen, markanten Gesicht und schneeweißen Haaren. „Das ist doch nichts als Schönfärberei! Alles, worauf wir uns wirklich verlassen können ist, dass Menschen hier verschwinden und nie wiederkehren. Die meisten fürchten sich davor. Und das nützt Ihnen .“
    „Freunde! Nicht zuviel auf einmal!“ unterbrach Grim. „Bedenkt, dass unser junger Freund erst seit kurzem in unserem Kreis ist und von den vielen Neuigkeiten verwirrt sein könnte!“
    „Wen meint Sie?“ fragte Darius.
    „Unsere junge Schwester Eleonora meint, dass diese unsere Furcht jenen Anderen die Macht sichert.
    Die Andachten im Tempel scheinen dazu zu dienen, uns mit Ruhe und Hoffnung zu erfüllen. Wir beten wider das Vergessen und fühlen uns in unserer Furcht miteinander verbunden. Wir reichen uns die Hände und sprechen mystische Formeln in der Alten Sprache. Wir sind beeindruckt von der Erhabenheit und der Größe von all dem. Aber in Wahrheit thematisieren wir nur Angst. Und Angst macht gefügig. Angst bringt uns dazu, das zu befolgen, was angeblich gut für uns ist. Aber dies zu bestimmen entscheiden nicht etwa wir. Es wird uns vorgegeben. Und wehe dem, der zweifelt.“
    „Sie“, ließ sich nun ein würdiger Herr mit kurzem, weißen Bart, der in eine gewaltigen Pelzmantel gehüllt war, vernehmen, „Sie sind ein solcher Zweifler.“
    „Aber ich habe nie gezweifelt“, widersprach Darius. „Im Gegenteil, ich habe willig meine Arbeit getan, und habe keine Zeit der Andacht ausgelassen. Ich war stets ein unauffälliger Bürger.“
    „Eben darin sind Sie im Irrtum“, sagte der würdige Herr.
    Darius konnte unter seinem Mantel eine schwere Goldkette erkennen, die mit unzähligen farbigen Steinen besetzt war. Er musste auch im Leben eine bedeutende Persönlichkeit gewesen sein.
    „Es ist auch gar nicht Ihr Wille, der Sie dazu macht. Es ist Ihre Natur, Ihr Schicksal. Sie haben die Gabe des Fühlens, des Wahrnehmens. Dadurch haben Sie das dumpfe Dahinvegetieren durchbrochen und begannen das eigenständige Denken. Damit beginnen Differenziertheit und Zweifel. Dies hassen und fürchten Jene . Für sie sind Sie eine Gefahr. Für uns aber sind Sie vielleicht die Rettung.“
    „Aber bin ich denn der Einzige?“ begann Darius. „Jeder von Ihnen hier scheint dies doch auch zu kennen.“
    „Dies mag zutreffen. Aber wir haben Grund zur Annahme, dass Sie hier am innigsten verbunden sind mit der Welt von einst. Mehr als alle anderen hier. Deshalb erbitten wir Ihre Hilfe.“
    „Wie könnte ich Ihnen helfen?“
    Grim war derjenige, der nach einer längeren Pause weitersprach. Er brachte wieder etwas Ruhe in den Diskurs.
    „Wir glauben“, sagte er, „dass Sie, junger Freund, zwischen den Welten wandern können. Wir hoffen, dass wir dadurch unser Sein nicht nur erhalten, sondern sogar freundlicher, lebendiger sein lassen könnten. Wir glauben, dass wir dadurch die Macht der Anderen durchbrechen können und eine Welt ohne Angst und Dumpfheit schaffen können.“
    Angespannte Stille erfüllte das Gewölbe. Selbst Grim schien nun erregt, obgleich nach wie vor beherrscht. Aller Augen waren auf Darius gerichtet. Er spürte, wie die Blicke ihn förmlich durchbohrten. Es waren keine aggressiven Blicke, aber so voller Schmerz, Hoffnung und Intensität, dass er vermeinte, innerlich zu brennen. Eine bebende Erregung floss von seinem Nacken den Rücken herunter und verdichtete sich in seinen Fußgelenken. Sein Blick fiel auf die groben Quader des Steinbodens, den seine Füße berührten. Fester, unerschütterlicher Stein. Darius sah in die Runde.
    „Wie kann ich das tun, was Sie von mir erbitten?“
    Grim hatte sein leises Lächeln wiedergefunden. „Wir haben bereits vorgearbeitet“, sagte er. „Das Tor nach Drüben steht bereits offen. Doch noch ist es uns nicht gelungen, es zu durchschreiten. Aber andere Wesen konnten es.

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