Die schlafende Stadt
aufzulösen und sein eigenes und das Vermögen seiner Brüder an einen sicheren Ort zu schaffen. Alle Orden wurden von der neuen Regierung und ihrem schreienden Führer aufgelöst und ihre Habe beschlagnahmt. George war zwar gänzlich unpolitisch, aber er hatte es sich seit einigen Jahren zur Aufgabe gemacht, wachsam zu sein.
Auch die Marschmusik war da, deutsches Liedgut überall, eine Qual für seine sensiblen Ohren. Erstmals befasste er sich ernsthaft mit dem Gedanken, in seine Heimat England zurückzukehren, diesmal ganz, für immer. In einem Land, wo öffentlich Bücher verbrannt wurden, konnte sein Zuhause nicht sein.
Seine eigene Sicherheit war nach wie vor unangetastet. Er war eine Autorität, ein Geheimtipp, dabei keine öffentliche Gefahr. Und er war sogar noch mehr.
Ein besonderer Klient war erschienen, inkognito, in Zivil. Der rundgesichtige Mann mit der dicken runden Brille und dem Schnurrbart, der sich so betont straff und soldatisch gab, wirkte auf George fast wie ein kleiner Junge. Seine Ausstrahlung war dennoch unangenehm, nicht unmittelbar bedrohlich, sondern sie hatte etwas Ekliges, Krankes. George merkte das an der leichten Übelkeit, die ihn plötzlich beschlich.
„Ihre Fähigkeiten sind mir und unserem Führer zu Ohren gekommen“, schnarrte der Mann überlegen. Das Zackige passte überhaupt nicht zu seiner teigigen Körperlichkeit.
„Das freut mich außerordentlich“, gab George diplomatisch zurück, „der Sinn für mein Wirken wird nicht von vielen geteilt. Nur wenige verfügen über die Gabe, Wesentliches zu erkennen.“
„Er stößt gerade bei mir auf Interesse“, erklärte der Kurzsichtige mit etwas weniger verkniffenem Blick. „Ich gehöre selber einem okkulten Orden an, der sich mit Ähnlichem befasst.“
Er heftete seine ausdruckslosen Augen auf George.
„Was halten Sie von der seherischen Tradition unserer jahrtausendealten arischen Hochkultur?“
George schluckte schmerzvoll den mehrfachen Unsinn in einem einzigen Satz. Er hielt dem Blick jedoch gelassen stand und überlegte, was ihm zum Thema des stolzen Germanentums einfallen könnte.
George bekam Lust auf ein großes, süffiges Weißbier, das er in Bayern stets so gern getrunken hatte. Das Bittere des Bieres hatte ihm auch stets gegen Übelkeit und Unwohlsein geholfen. Es tauchten prompt Bilder auf von wogenden Weizenfeldern in der Sommersonne, liebreizenden vollbusigen, blonden Frauen und mystischen Vollmondnächten unter großen Bäumen.
„In der gewaltigen germanischen Eiche“, sagte er schließlich langsam, „verdichten sich Jahrtausende von Sonnen und Monden, die Äcker, Saaten und Ernten beschienen, gleich der Wucht des Thor, der Weisheit Odins, Freya, der reinen Weiblichkeit, und Balders, dem Licht, das jedes Dunkel vertreibt.“
Der Kurzsichtige schürzte die Lippen und hechelte drei scharfe Atemstöße.
„Wohl gesprochen!“ sagte er dann. „Dann also werden wir dieses hehre Erbe mit allem unserem edlen Blute verteidigen und alle vernichten, die es zersetzen!“
Ruckartig stand er auf. George war es, als sei er im Begriff, vor ihm zu salutieren. Er reichte ihm aber nur die Hand.
George ergriff sie zögerlich. Eine feuchte, teigige Hand. Sie fühlte sich an wie eine tote Kröte.
„Heil Hitler!“
George beließ es bei einer leichten Verbeugung.
George war bereits eine Woche später in England, und verbrachte die meiste Zeit in dem kleinen Landhaus in Cornwall, das er von seinen Eltern geerbt hatte. Manchmal, in seltenen Fällen reiste er nach London, um ein Konzert zu genießen. Dann kam der Krieg, wo die Erben Odins und Thors andere Völker zu vernichten suchten und sich selbst gleich mit ermordeten.
George leistete seinen Beitrag, indem er Kinder aus den großen Städten bei sich aufnahm. Er stellte überrascht fest, dass er wie geschaffen war für diese Aufgabe. Er erzählte ihnen Geschichten, und sie lauschten noch viel aufmerksamer als manche Erwachsene. Er spielte ihnen Schallplatten aus seiner reichhaltigen Sammlung vor, ging mit ihnen in den Wald und erklärte dort Pflanzen und Tiere. Etwas betrübte ihn, dass die Kinder seine Kochkünste nicht ganz zu schätzen wussten und eher einfache Gerichte bevorzugten, eben das, was sie schon kannten. Aber alle waren sich einig, dass der zierliche, kleine, mittlerweile kahlköpfige alte Mann das Beste war, was ihnen in diesen unruhigen Zeiten hatte passieren können. Als sie ihn nach dem Krieg alle wieder verließen, kam er sich einsam
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