Die schlafende Stadt
Dann durchflog er eine tiefe Dunkelheit und spürte plötzlich, dass seine Füße auf ebenem Boden standen.
Er glaubte,
seine Phantasie habe bloß das Bild belebt,
welches in seiner Seele wohnte.
John William Polidori, The Vampyr
M it Berthold war etwas Eigenartiges geschehen. Er verspürte eine Erleichterung, die er sich nicht erklären konnte. Die Lektüre von Dankwarts Tagebuch hatte ihn zunächst verwirrt und geradezu entsetzt, doch hatte dies ihm ein Tor zu einer verborgenen Erkenntnis aufgestoßen, an der er immer gezweifelt, die er sich aber dennoch immer gewünscht hatte. Frau Goldblatt hatte ihn gut vorbereitet. Auf bestürzende Weise hatte sie Recht gehabt. Nicht nur seine Gefühle, selbst seine Träume passten zu jemand anders – zu Dankwart, seinem bisher so unbekannten Urgroßvater. Nur, dass Dankwart alles, was zu jenen Träumen und Gefühlen passte, selbst erlebt hatte. Berthold dagegen nicht. Sein Vater Ludwig nicht, ja selbst sein Großvater Anton nicht, obgleich diese ja alle viel näher an allem waren als er.
Und doch war es ihm beim Lesen so vorgekommen, als habe nicht Dankwart dies alles geschrieben und erlebt, sondern er selbst, so nah, so plastisch war ihm alles. So als wäre er Dankwart – oder Dankwart wäre er.
All dies hatte ungeahnte Folgen. Diesen Abend traf er sich endlich wieder einmal mit Margit. Obwohl sie von ihrer Konzertreise bereits eine Woche wieder da war, hatte sie ihn vertröstet. Sie brauche Zeit für sich, habe viel zu tun. Das übliche Gewäsch, das sie vorbrachte, um ihn nicht sehen zu müssen – es sei denn, er selbst ging auf Distanz. Dies wirkte eigenartigerweise nach wie vor. Verlieren wollte sie ihn wohl doch nicht.
Sie ließ sich wie immer bereitwillig zum Essen einladen. Schön sah sie aus, wie immer, dezent und doch wirkungsvoll geschminkt, den billigen Schmuck, den sie sich leisten konnte, effektvoll platziert. Sie ließ es sich schmecken und verdrückte auch noch einen köstlichen Nachtisch. Den ganzen Abend erzählte sie von ihrem neuen Opernengagement und dass ihr womöglich ein fester Vertrag winke. Der Intendant hatte es offenbar auf sie abgesehen, und sie beschrieb den Fünfzigjährigen als jemand, der ihr wohl unmissverständliche Avancen gemacht hatte, ohne aber für Berthold klarzustellen, ob sie dem nachgeben werde oder nicht. Ihm entging auch nicht, wie sie genießerisch seine Reaktion beobachtete. Wie immer fuhr sie sinnlich mit ihrer Zungenspitze über die Innenseite ihrer Lippen.
Berthold hatte es schon befürchtet, dass er nicht bei ihr bleiben durfte. Sie ließ sich von ihm nach Hause bringen, und reichte ihm zum Abschied förmlich die Hand. Seiner Umarmung entwand sie sich und drehte sich weg, als er sie küssen wollte. Sie sei heute nicht in Stimmung sagte sie ihm.
Berthold saß schon wieder im Auto und fühlte sich wieder einmal sehr verletzt. Er dachte an Margits Traurigkeit, die immer wieder zutage getreten war, wegen der er sie nie alleine lassen wollte. Die Tränen, die sie so oft unterdrückte, das verkrampfte Lächeln, mit dem sie sich immer wieder selbst vormachte, wie gut es ihr ging. Ihre arrogant scheinende Hochmütigkeit, wenn der Applaus aufbrandete, den sie so nötig brauchte wie die Luft zum Atmen. Immer, immer war sie letztendlich alleine gewesen in ihrem Leben. Berthold war immer angerührt gewesen von dieser Tragik, diesem Klammern von ihr an allem, was ihr doch noch die Anerkennung, ja die Liebe geben könnte, in der sie als Kind so oft enttäuscht worden war.
Doch diesmal fühlte er plötzlich etwas anderes. Ein Gefühl der Empörung war auf einmal da. Ihm fiel auf, dass er erstmalig an sich dachte und nicht an sie.
Dankwart hätte sich so etwas niemals bieten lassen!
Wer zum Teufel war er eigentlich, dass er sich so behandeln ließ?
Was konnte er schon ausrichten gegen Margits unbekannten Vater? Ihre egoistische Mutter? Ihren gleichgültigen Bruder?
Nichts! Sie würde sich niemals ändern. Sie würde seine Liebe niemals annehmen können.
Er wendete sein Auto und fuhr den gleichen Weg zurück. Es war bereits nach Mitternacht, als er auf Margits Klingel drückte. Nach einer Weile streckte sie ihren Kopf missmutig aus dem Fenster.
„Was willst du?“
„Ich muss dir etwas sagen“, antwortete Berthold.
„Um diese Zeit?“
„Ja. Keine Sorge, es ist nur kurz.“
Ihr Kopf verschwand. Nach ein paar Minuten erschien sie im Morgenmantel an der Haustür.
„Na, dann aber schnell. Ich bin müde“, sagte sie
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