Die schlafende Stadt
beruhigt. Wir sind in der Lage, Sie wieder hierhin zu holen. Wir können Ihnen aber nicht folgen. Daher werden wir genauestens beobachten, inwieweit wir Unruhe und Erregung bei Ihnen registrieren – soweit es uns möglich ist“, fügte er demütig hinzu.
„Nehmen Sie das.“
Grim zog einen Ring von seinem Finger. Er war mit einem einzigen, tiefschwarzen, unergründlich schimmerndem Stein besetzt, kugelrund und schwer.
„Mit diesem Ring werden Sie sich leichter hierhin zurück begeben können. Es ist der Ring all unserer unerfüllten Wünsche.“ Er steckte ihn Darius an den Finger.
Darius atmete tief. Er schloss die Augen. Eine unbekannte Kraft kippte den Thron nach hinten. Das war angenehm. Er fühlte eine ruhige Schwere in seinem Körper. Sein Atmen wurde leicht. Nach kurzer Zeit verspürte er keinerlei Bedürfnis mehr, sich zu regen. Er war in etwas Tiefes gesunken, friedvoll, ruhig, und doch so ... lebendig!
Plötzlich vermeinte er, etwas zu sehen. Zunächst verschwand das Bild wieder. Darius merkte, dass der Druck der Erwartung seine Wahrnehmung schwächte. Ruhig und gelassen atmete er nun. Er spürte die Schwere seines Körpers auf der Unterlage. Sein Blick ging in die Ferne. Durch die Felskuppel hindurch.
Dann erschien das Bild wieder. Ein junger Mann und eine junge Frau gingen Hand in Hand einen Waldweg entlang. Ihre Kleidung war ausgesprochen altertümlich, sie waren wie mittelalterliche Spielleute gekleidet.
Nein, das konnte es nicht sein! Darius verwarf das Bild wieder. Dies war zu weit entfernt von seinem Schicksal. Das Bild löste sich wieder auf.
Er konzentrierte sich erneut. Wieder erschien eine Szene, eine andere diesmal.
Zwei Frauengestalten saßen an einem Tisch und aßen etwas. Sie waren beide elegant gekleidet, in der Mode, wie Darius sie kannte.
Darius kannte diese Szene. Es war wie ein Wiedersehen.
Die eine führte ein Glas zum Mund das langgestreckt war wie ein Blütenkelch. Die andere hatte den Kopf in die Hand gestützt und schien über etwas nachzudenken. Oder sie war einfach nur müde.
Dann wandte sie den Kopf und sah in seine Richtung. Ein schönes, junges Gesicht. Dunkle Augen, schwere Augenlider. Eine lange, gerade Nase. Der Blick voller Melancholie. Dies war die Verbindung, die Darius brauchte.
‚Jetzt geschieht es!’ durchzuckte es ihn.
Seine Seele machte sich auf den Weg. Plötzlich sah er auf sich selbst hinab. Er sah, wie er auf dem Thron saß, sein Gesicht friedvoll entspannt, die Anwesenden schweigend und aufmerksam. Wenn er nach oben sah, konnte er die roh behauene Kuppel aus allernächster Nähe betrachten. Er schwebte höher, durch den Kamin hindurch und den Sternen entgegen. Er sah nach unten. Die ganze Stadt lag unter ihm. Er sah deutlich den Hafen, die Festung, den Ygâr-Dá, das heimische Observatorium mit dem Kloster. Dann sah er auf das Meer.
Ihm war nie klar gewesen, wie viele es waren. Aus unendlicher Ferne, von allen Seiten, kamen die Boote. Boote voller Seelen, die eine neue Heimat anliefen.
Darius fühlte eine heftige Bitterkeit.
Doch dies machte ihn umso entschlossener. Er wandte sich in Richtung der Festung. Dort, über dem Hauptturm, den die vielen Vögel umkreisten, schwebte die dunkle Wolke, die wie ein gewaltiger Strudel wirkte und wie ein Trichter sich vom Hauptturm aus in unendliche Höhen ausbreitete. Erst jetzt, aus nächster Nähe, sah Darius, dass die rotierenden Wolkenmassen sich wie ein Gewitter zusammenballten. Er schwebte darauf zu. Immer näher kam er, und erst, als er die Wolkenschwaden unmittelbar vor Augen hatte und bereits eingetreten war, fuhr ein Wind in sein Haar, in seine Kleidung – gar nicht wild und unbändig, wie er es erwartet hatte, sondern erstaunlich sanft. Darius tauchte ein in das Dunkel des Wolkenstrudels. Die Strömung des Windes zog ihn mit, immer tiefer in die Mitte. Darius spürte eine Art von Betäubung – nicht dumpf und schwer, wie er es aus der langen Zeit seines Seins in der Stadt kannte – es war vielmehr eine Verlagerung weg von seinem bewusstem Verstand zu seinem gefühlvollen Ich. Er fühlte eine Verbindung zu einer uralten Wahrheit, die unendlich weit entfernt schien, nach der er aber unterwegs war und der er nun immer näher kam.
Plötzlich erinnerte er sich nicht mehr, wonach er unterwegs war. Gerade noch hatte er noch an die grünen Augen denken wollen, jetzt hatte er sie vergessen. Stattdessen fühlte er grenzenlose Sehnsucht und Begehrlichkeit, doch er wusste nicht, nach wem oder was.
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