Die schlafende Stadt
einer nadelartigen Spitze fortsetzte, die wiederum in einer Kugel endete.
Leni überlegte. Was könnte dies wohl sein? Mit Blick auf die Kugel auf der Spitze kam ihr „Der Tempel des Mondes“, in den Sinn.
Als sie dies unter die Zeichnung geschrieben hatte, kam ihr der Titel zu simpel vor. Sie radierte ihn wieder aus.
Ihre nächste Idee gefiel ihr besser:
„Das Kenotaph“, notierte sie am unteren Bildrand. Dies war etwas rätselhafter und passte besser zur morbiden Atmosphäre des Motivs.
Berthold konnte seine neue Freiheit kaum fassen. Er fühlte sich leicht und frei wie ein Vogel. Er erwachte am nächsten Morgen mit dem gleichen Stolz und dem Gefühl der Genugtuung wie am Abend. Er war auf Margit noch nicht einmal wütend. Sie war einfach nicht mehr wichtig. Er hätte es nie für möglich gehalten, dass dies möglich sein könnte.
Stattdessen dachte er jetzt wieder an die geschundene, schöne Frau, die er vor wenigen Wochen halbtot am Fluss gefunden hatte. Seit seinem Besuch in der Klinik hatte er sie nicht wiedergesehen. Er wusste wohl ihren Namen, hatte aber keine Adresse oder Telefonnummer, die man ihm im Krankenhaus auch nicht hatte geben wollen. Er hatte bereits mehrere Telefonbücher gewälzt, aber keinen Eintrag gefunden. Seine einzige Hoffnung sie wiederzusehen war seine Visitenkarte, die er bei seinem letzten vergeblichen Besuch hinterlegt hatte. Sie schlafe, hatte Schwester Rosi ihm gesagt, hatte aber versprochen, sie ihr auszuhändigen.
Sehnsuchtsvoll starrte er auf das Telefon.
Er legte eine CD ein, die er sich erst kürzlich gekauft hatte. Das Violinkonzert von Sibelius, in einer großartigen Einspielung mit Christian Ferras. Laut des Konzertplanes in Antons Kiste hatte sein Urgroßvater Dankwart dieses Konzert sogar selbst einmal gespielt. Er setzte sich in seinen Sessel, schloss die Augen und gab sich einer romantischen Melancholie hin. Sollte er sie nochmals treffen können, würde er sie so bald wie möglich in ein Konzert einladen.
Robins Magengrube schmerzte noch immer, obwohl sein Vater schon längst wieder verschwunden war. Er heulte. Die Demütigung von heute war der Gipfel der schleichenden Verachtung gewesen, die sein Vater für ihn empfand. Seine Beschimpfungen dröhnten noch in seinen Ohren:
„Vollidiot!“ - „Versager!“ - „Klugscheißer!“ - „Riesenbaby!“ - „Penner!“
Seine Mutter saß hilflos neben ihm und streichelte im den Nacken.
„Sei ihm nicht böse“, sagte sie schließlich zaghaft, „er meint doch im Grunde nur, dass etwas Disziplin nicht schadet ...“
Robin rieb seine Wangen, die von den gerade erlittenen Ohrfeigen knallrot waren. Er bekam kein Wort heraus.
Rosemarie Frauendorff fühlte sich ganz elend. Sie wollte auf ihren Jungen nichts kommen lassen, aber die Sorgen um ihn begannen nun doch überhand zu nehmen. Sie blickte sich in Robins Wohnung um. Es sah dort aus, als habe eine Bombe eingeschlagen. Das Bett war wie immer ungemacht, Zeitungen, ein paar Bücher und diverse getragene Kleidungstücke bedeckten den Teppichboden, der voller Krümel und Flecken war. Ein großer Zeichenblock und zahlreiche Farbtuben lagen auf mehrere Haufen verteilt, und der Schreibtisch quoll über von Zetteln und Notizen der letzten beiden Jahre. Der strenge, abgestandene Geruch von Schweiß erfüllte das Appartement, das ihr Mann ursprünglich zur Vermietung an Studenten gutbetuchter Eltern erworben hatte. Robin hatte die schmucke Wohnung in den zwei Jahren, in denen er sie umsonst bewohnte, völlig verwahrlosen lassen. In der Küche stapelte sich das unabgewaschene Geschirr der ganzen letzten Woche, Spinnweben hingen in den Zimmerecken. Selbst die von seiner Mutter gewaschenen und sorgfältig gebügelten Hemden hatte er lediglich auf einem Stuhl abgelegt, anstatt sie in den Kleiderschrank einzusortieren.
„Der Idiot kapiert doch gar nichts“, stieß Robin mit tränenerstickter Stimme hervor. „Dass ich Künstler bin, weiß dieser Primitivling noch nicht einmal. Sogar das Schreiben habe ich jetzt angefangen. Und dass ich bereits an meinem Medizinstudium sitze, interessiert den auch überhaupt nicht.“
„Er denkt halt, dass man dafür erst einmal eingeschrieben sein muss ...“
„Ach, der hat doch keine Ahnung! Wer besonders talentiert ist, kann das auch schon vorher! Ich weiß schon jetzt mehr als so mancher Arzt!“
„Aber du studierst doch noch gar nicht! Du machst doch gerade erst Zivildienst ...“
„Ich bin in äußerst intensiven
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